Vielfältige Geschichte sammeln

Museen und das Desiderat der lsbttiq-Geschichte

von Helena Gand, Stadtmuseum Stuttgart

Geschichte bedarf Zeugnisse, die von ihr erzählen, und Erinnerungsanlässe, die sie in die Gegenwart transportieren. Ohne Dokumente, Bilder, Objekte oder mündliche Überlieferung ist es kaum möglich, historisches Wissen zu erzählen und es für die Zukunft zu erhalten. Museen und Archive bewahren und dokumentieren dieses mobile Erbe. Sie sammeln Originale, die eine Grundlage für wissenschaftliche Forschung, für Erkenntniszuwachs und damit für ein Geschichtsbild schaffen.

Doch sind musealen Sammlungen immer kulturelle Kodierungen und Machtstrukturen vorgelagert, die vorherrschenden Identitätskonzepten und Deutungsansprüchen folgen. Was heute in den Depots von Museen bewahrt wird, gründet auf den Entscheidungen dessen, was Generationen von Kuratorinnen und Kuratoren vor uns als sammelwürdig erachteten. Sammlungen geben somit immer auch den Wissens-, Welt- und Wirklichkeitsbegriff einer Gesellschaft wieder. Wen und wessen Geschichte repräsentiert eine Sammlung? Welche Perspektiven werden gewählt, welche übersehen, welche ausgeblendet oder bewusst ausgegrenzt?

Sarah Café 1981: Ausstellung lesbia erotica

Eines der wenigen lesbischen Objekte der Sammlung im Stadtmuseum Stuttgart

Um das Narrativ einer an der Mehrheitsgesellschaft orientierten Geschichtsschreibung aufzubrechen, müssen Museen heute ihre Sammlungspolitik neu hinterfragen und bewusst öffnen. Denn unsere Geschichte ist vielfältig, und diese Vielfalt zu dokumentieren gehört zu den Kernaufgaben eines Museums. Viel zu lang fand die lesbische, schwule, transsexuelle, -gender, intersexuelle und queere (lsbttiq)Geschichte in der Sammlungspolitik von Museen und Archiven wenig bis gar keinen Ausdruck. Die langanhaltende Strafverfolgung homosexueller Männer durch den Strafrechtsparagrafen 175, die Diskriminierung von anders als heterosexuell ausfallenden Lebensentwürfen und deren Marginalisierung bildeten die Grundlage für die blinden Flecken in der Historiographie. Nicht nur im Museum wurde der lsbttiq-Geschichte keine Beachtung geschenkt, auch in der wissenschaftlichen Forschung selbst wurde sie nur selten Gegenstand von Untersuchungen. Die öffentliche Ignoranz gegenüber sexueller Vielfalt, von schwulen, lesbischen, bi-, trans- und intersexuellen Identitäten privatisierte diese Geschichten und drängte sie in ein Nischendasein, aus dem sie heute nur mühsam hervorgeholt werden können. Vieles ist vergessen, vieles verloren und vieles unerforscht.

Erst seit den letzten Jahren wird von öffentlicher Seite vermehrt Wert darauf gelegt, auch die Geschichte der Sexualitäten zu sammeln, um dem Desiderat vergangener Jahrzehnte entgegenzuwirken. Spätestens seit der 2015 gezeigten Ausstellung »Homosexualität_en« im Deutschen Historischen Museum und dem Schwulen Museum* in Berlin hat die Diskussion darum erneut Auftrieb bekommen, und regionale Museen und Archive zeigten sich in der Folge empfänglicher für das Thema.

Das Stadtmuseum Stuttgart versteht die lokale lsbttiq-Geschichte als einen Teil der vielfältigen Stadtgeschichte und verankerte diese Überzeugung in der Sammlungsstrategie. Das Museum startete daher 2014 einen Sammlungsaufruf. Durch Veranstaltungen und die Kooperation mit der Interessensgemeinschaft CSD Stuttgart e. V. wurde dieser Sammlungsaufruf in die lsbttiq-Communities getragen und seitdem jährlich während der CSD-Kulturwoche erneut publik gemacht. Die vorläufigen Ergebnisse des Sammlungsaufrufs sollen einen festen Bestandteil in der Dauerausstellung des zukünftigen Museums im Wilhelmspalais bilden. Der neu akquirierte Sammlungsbestand wie z.B. der rund um das 1983 eröffnete Café Jenseitz, das im Stadtbild erste offensiv sichtbare Schwulencafé, wird als Auftakt für die Ausstellungseinheit über die Stuttgarter lsbttiq-Geschichte im Stadtmuseum dienen. Auch wenn der Sammlungsaufruf  insgesamt auf mehr Resonanz stoßen könnte, entsteht auf diese Weise zumindest eine dauerhafte Anlaufstelle für die Bewahrung der städtischen Geschichte der Homosexualitäten Stuttgarts. Denn auch künftig soll weitergesammelt werden, um den Sammlungsbestand zur lsbttiq-Geschichte noch auszubauen und damit zur Erforschung der komplexen Stadtgeschichte beizutragen.

Nach fast dreijähriger Sammeltätigkeit des Stadtmuseums Stuttgart auf diesem Gebiet lässt sich eine deutlich stärkere Reaktion seitens der schwulen Community feststellen. Die bisher gesammelten Dokumente, Fotos und Erinnerungsstücke  sowie die in filmischen Interviews festgehaltenen mündlichen Berichte erzählen hauptsächlich von schwuler Geschichte. Es ist erfreulich, dass der Aufruf auf nahrhaften Boden gefallen ist. Aber gleichzeitig untermauert dieser Rücklauf auch die Reduzierung eines heute sehr viel differenzierteren Diskurses allein auf die schwule Geschichte. Das stellt wiederum ein Dilemma für das Museum dar, denn ohne Erinnerungs­stücke der z. B. lesbischen Community kann deren Geschichte in der Ausstellung kaum erzählt werden. Die Anerkennung der Verschiedenheit der lsbttiq-Geschichten und ihre Sichtbarmachung sind jedoch wichtig, um sie nicht zu vergessen und auszugrenzen.

Die Schwierigkeit, dass die Geschichte der schwulen Emanzipation im Vergleich zur lesbischen, bisexuellen, transsexuellen und intersexuellen Geschichte generell greifbarer ist, unterstützt die Gefahr einer fehlenden Differenziertheit. Das ist einerseits eine Auswirkung der Verfolgungs­­geschichte – Schwulsein an sich wurde mit dem Strafrechtsparagraphen 175 dezidiert kriminalisiert und schlägt sich bis heute dementsprechend in Quellenmaterial nieder. Lesbische Liebe wurde nicht systematisch verfolgt und ihre Diskriminierung nicht ausdrücklich gekennzeichnet. Das erschwert eine Recherche in der Gegenwart. Andererseits liegt es an der Emanzipation selbst: Lesbische Emanzipationsbestrebungen verteilten sich auf die Mitarbeit an der Bewegung der Schwulen, auf die dezidiert lesbische Emanzipation und (häufig unsichtbar) auf die generelle Frauenemanzipation. Bei der lesbischen Emanzipationsbewegung ging es nicht nur um die sexuelle Orientierung, sondern auch um die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen gegenüber Männern. Die Reduzierung auf eine rein lesbische Emanzipation ist berechtigterweise zu kurz gegriffen. Aber wo wurde lesbische Emanzipation explizit sichtbar?

Derartige Leerstellen zu erfassen, sie in die Öffentlichkeit zu bringen und zu diskutieren, muss Aufgabe von öffentlichen Einrichtungen sein, um einen gesellschaftlichen Prozess anzustoßen. Aber dieser Prozess kann nicht alleine von ihnen getragen werden, sondern bedarf der Partizipation von den lsbttiq-Communities selbst, damit nicht nur über-, sondern miteinander geredet wird.

Eine Schnittstelle zu schaffen, um aus dem Feld der privaten Geschichte herauszutreten, bedeutet für beide Seiten, Neuland zu betreten. Museen fehlen oftmals die Stimmen innerhalb der Communities, d.h. der Kontakt zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und der richtige Umgang mit diesen unbekannten und wenig erforschten Themen. Oft mangelt es an Grundlagenwissen über sexuelle Vielfalt und dem Verständnis der Diversität von lsbttiq, die bei den Forschungen zu Unsicherheiten führen. Diese beginnen etwa bei der Frage nach den relevanten Quellen, die neue Suchwege erfordern, und enden beispielsweise bei der Verwendung der richtigen Begrifflichkeiten in diesem Kontext.

Lsbttiq-Communities wiederum könnten die Museen unterstützen, indem sie nicht nur untereinander, sondern auch in Museen für ihre Historizität einstehen, diese nach außen tragen und sich öffentlichen Institutionen mitteilen. Durch diese könnten die eigenen Geschichten einen Bedeutungszuwachs erlangen und verbreitet werden. Denn die historische Dokumentation der lsbttiq-Geschichte sollte nicht nur in die Hände von Privatpersonen oder ehrenamtlich geführte Institutionen gelegt werden. Eine historische Entwicklung an öffentlichen Stellen zu dokumentieren, würde dabei helfen, die lsbttiq-Geschichte nicht zu marginalisieren, und sie gleichzeitig der Forschung und der Allgemeinheit leichter zugänglich zu machen. So könnte ein historisches Verständnis unserer vielfältigen Lebensweisen geschaffen, es könnten Vorurteile abgebaut und Auseinandersetzungen mit Diversität angeregt werden. Ein erfolgreicher Prozess, der gesellschaftliche Stimmen in Museen sammelt und für die Zukunft bewahrt, liegt in einem kooperativen Miteinander: in einer Sensibilisierung für die lsbttiq-Geschichte in  Museen sowie in einer Öffnung der eigenen Geschichten für die Öffentlichkeit seitens der lsbttiq-Communities.

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