Café Bar Jenseitz und Buchladen Erlkoenig in Stuttgart

Orte der Sichtbarkeit: Café Bar Jenseitz und Buchladen Erlkoenig in Stuttgart

von Helena Gand, Stadtmuseum Stuttgart

Am 30. Juli 1983 öffnete das Jenseitz in der Bebelstraße 25 im Stuttgarter Westen als „schwules Projekt für alle“ seine Türen. Es beendete die Zeit, in der schwule Treffpunkte in der Stuttgarter Altstadt, unweit des Rotlichtbezirks, hinter dunklen Vorhängen versteckt und nur über einen Hintereingang oder mit Türkontrollen zu betreten waren.

Der Türgriff des Jenseitz erinnert in Form und Farbe an den „Rosa Winkel“. Mit diesem Zeichen wurden Personen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern markiert, die aufgrund ihrer Homosexualität verhaftet waren. Der Türgriff rekurriert an dieses Symbol, er bricht seine Form auf und wird so zum emanzipierenden Erkennungs-zeichen. Erst nach Schließung des Jenseitz wurde der Türgriff von den Nachmietern der Lokalität grau überstrichen. Für die Präsentation des Türgriffs im Stadtmuseum Stuttgart wurde die ursprüngliche Farbfassung freigelegt.© Stadtmuseum Stuttgart

Über zwei Jahre lang hatten die Begründer des Jenseitz nach geeigneten Räumen gesucht. Um dem kriminellen Image der Schwulenszene entgegenzuwirken, sollte ihr Café in einer bürgerlichen Wohngegend angesiedelt werden. Ende der 1970er Jahren lagen die Stuttgarter Schwulenbars meist nahe des Leonhardsviertel und wiesen einen heimlichen Charakter auf, der als anstößig empfunden wurde. Damit wollten die künftigen Betreiber des Jenseitz endlich Schluss machen. Das Gründungskollektiv bestand aus einer wechselnder Anzahl junger Männern, die Berliner Cafés und Kneipen wie z. B. das Andere Ufer kannten und derartig offen und autark gestaltete Treffpunkte für Schwule in der Stuttgarter Heimat vermissten. Um Abhilfe zu verschaffen hatte Walter Kurz, einer der Initiatoren, gemeinsam mit neun Unterstützern Anfang der 1980er Jahre eine GmbH gegründet. Nach langwieriger Suche hielt er Ende 1982 endlich den Mietvertrag für das Jenseitz in Händen.

Das Wahlplakat mit dem Thomas Ott 1982 gegen Manfred Rommel antrat.
©Stadtmuseum Stuttgart

Es war der Tag der Kandidatenvorstellung der Oberbürger­meisterwahl in Stuttgart 1982. 13 Bewerber stellten sich den Bürgerinnen und Bürgern zur Wahl – unter ihnen: Thomas Ott, Mitte 20, Geschichts- und Geographiestudent sowie Aktivist in einer Stuttgarter Schwulen­gruppe, die Teil der linksgerichteten Sponti-Bewegung war. Für sich und seine Mitstreiter zeigte Ott Gesicht: Auf Wahlplakaten, die in der Stadt verteilt waren, war er in Pelzmantel gekleidet, vor einem Anarchozeichen und mit dem selbstgewählten Motto „Firlefanz statt Toleranz – Schwul in die Zukunft“ zu sehen. Am Ende erreichte Ott 480 Stimmen und den Respekt von Oberbürgermeister Manfred Rommel, der sich nach der Wahl im Amt bestätigt sah. Andere Gegenkandidaten verweigerten Ott hingegen den Handschlag und straften ihn mit Verachtung. Die Aktion zeigte dennoch Erfolg – sie förderte Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit in einem größeren Wirkungskreis. Bei der Vorstellung der Kandidaten der Oberbürgermeisterwahl in der Stuttgarter Liederhalle stand Kurz mit unterzeichnetem Mietvertag im Publikum und winkte Ott zu. Es konnte endlich losgehen – sie konnten ihr Projekt umsetzen.

Die gemieteten Räume boten mehr Platz als für den Barbetrieb benötigt. Kurzerhand entschieden sich die Männer dazu, zusätzlich einen kleinen Laden zu eröffnen, der neben Büchern, anfangs auch Naturkosmetik, Tee und Wein im Angebot hielt. Der Erlkoenig – Stuttgarts erster schwuler Buchladen, der noch heute besteht wurde geboren. Er eröffnete wenige Wochen nach dem Jenseitz. Schnell etablierten sich das Zweigestirn aus Jenseitz und Erlkoenig als Anlaufstelle für Schwule, die sich hier über die Szene in Stuttgart informieren, Kontakte knüpfen und sich austauschen konnten. Mit seinen großen, von außen einsehbaren Schaufenstern drückte das Jenseitz ein neues Selbst­verständnis aus, das für Sichtbarkeit und Offenheit stand. Neben Barbetrieb und Ladenverkauf organisierte das Kollektiv ein breites kulturelles Veran­stal­tungs­programm mit Kunst- und Fotoausstellungen (z. B. Keith Haring, Hannes Steinert, Jürgen Baldiga), Lesungen, Konzerten und Partyreihen. Die Gruppe verfolgte ein ganzheitliches Konzept, das auch in der Gestaltung und Dekoration der Räumlichkeiten aufging. Vom Türgriff bis zur Speisekarte – alles war durchdacht, gestaltet und vom Kollektiv gestützt.

In der Zeit als Schwulsein noch rechtlich geahndet wurde, waren Jenseitz und Erlkoenig mit ihrer bloßen Existenz schon eine Provokation gewesen. Ressentiments und homophobe Gewalt blieben nicht aus. Zeitzeugen berichten von Beleidigungen und Schmierereien an den Fenstern und davon, wie Passanten und Passantinnen bewusst die Straßenseite wechselten, um ihren Unmut gegenüber dem Café auszudrücken. 1987 erreichten die homo­phoben Anfeindungen einen traurigen Tiefpunkt, als Thomas Ott in seinem Buchladen von einem psychisch Kranken mit einem Messer niedergestochen wurde. 50 Tage lag Ott danach im Koma, die Hoffnungen waren fast schon verloren. Noch heute hat er mit den Folgen zu kämpfen.

Das vom Jenseitz und Erlkoenig offen hinausgetragene Einstehen für plurale Lebensformen bot Angriffsflächen. Doch eben diese nonkonforme Haltung und ihre Sichtbarmachung zementierten die Besonderheit dieser Institutionen innerhalb der Stuttgarter Stadt­geschichte und der schwulen Emanzipationsbewegung. Jenseitz und Erlkönig spielten eine eminente Vorreiterrolle in der Einbindung Homosexueller für ein vielfältigeres Stuttgart seit den 1980er Jahren. Das Jenseitz wurde nicht nur zu einem offenen Treffpunkt von schwulen Männer, sondern auch Lesben und Heterosexuelle trafen sich hier gern. Und es war von Anfang an offen für Menschen, die der zweigeschlechtlichen Einordnung in Frauen und Männer nicht entsprachen. Das Konzept des Kollektivs ging damit auf, getreu ihres Mottos „ein schwules Projekt für alle“ zu sein, wurde die Bebelstraße 25 zu einem Begegnungsort für Schwule und Nicht-Schwule.

Entgegen dem in der Sponti-Bewegung verhafteten Entstehungskontext war das Jenseitz als dauerhafte Einrichtung geplant, zu der es sich schließlich auch entwickelte. Es überstand die 1980er und 1990er Jahre mit den schweren Aids-Wellen, die auch dem Jenseitz-Team schmerzliche Verluste zufügten. 1992 verließ der langjährige Betreiber Walter Kurz das Jenseitz und eine neue Generation übernahm das Café. Sie führten das schwule Café noch bis 2006 – orientiert am Kerngedanken „ein schwules Projekt für alle“ zu sein – sehr erfolgreich weiter. Den Buchladen Erlkoenig gibt es noch heute.