Repression gegen Intersexuelle

Intersexuelle Menschen, die anatomische oder chromosomale Merkmale beider Geschlechter besitzen, standen und stehen unter dem enormen Druck, eindeutig einem (und nur einem!) Geschlecht zuzugehören.

Intersexualität in der NS-Zeit

Gerburtsurkunde, Deutsches_Reichsgesetzblatt_1899_015_236

Geburtsurkunde aus dem Jahr 1901. Die auf dem Standesamt auszufüllende Geburtsurkunde beinhaltete eine obligatorische Angabe zum Geschlecht des Neugeborenen als männlich oder weiblich. Erst seit 2013 besteht die Möglichkeit, die Angabe zum Geschlecht im Geburtenregister auszulassen. Quelle: Deutsches Reichsgesetzblatt 1899, Gemeinfrei.

Über die Situation intersexueller Menschen während des Nationalsozialismus‘ ist bisher wenig bekannt. Das Risiko, im Rahmen nationalsozialistischer „Rassenhygiene“ zu Opfern von Zwangsoperationen, medizinischen Experimenten, Verfolgung und Vernichtung zu werden, war für Intersexuelle durchaus vorhanden. Von systematischen Zwangsbehandlungen, die intersexuelle Menschen (z.B. per Operationen) einem Geschlecht zuordneten, ist nichts bekannt. Recherchen von Seiten intersexueller Selbstorganisationen haben aber Anhaltspunkte dafür geliefert, dass in der NS-Zeit vereinzelt Experimente an intersexuellen Menschen betrieben wurden.

Intersexualität in der Bundesrepublik:
Medizinische Eingriffe im frühen Kindesalter

Bis in die 1960er Jahre orientierte sich die Medizin am Geschlechtsempfinden der Betroffenen: Intersexuelle Menschen, die sich selbst als männlich erlebten, wurden als Männer eingeordnet; solche, die sich als weiblich erlebten, als Frauen. Eventuelle operative Eingriffe wurden daher, wenn überhaupt, erst nach der Pubertät vorgenommen, um die vollständige Ausbildung einer männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität abzuwarten. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre etablierte sich in der Bundesrepublik das sogenannte „Baltimorer Modell“ aus den USA. Dieses sah vor, intersexuelle Kinder schon im Säuglingsalter „geschlechtsangleichenden“ Operationen zu unterziehen.

Solche Operationen hatten keinerlei medizinischen Nutzen, sondern dienten allein der optischen Normanpassung. Der Preis für diese Normierung war und ist hoch: Schmerzen, der Verlust der Sensibilität der Sexualorgane und Entfremdung vom eigenen Körper sind die lebenslangen Folgen. Die rigiden Untersuchungs- und Behandlungsmethoden haben nicht wenige intersexuelle Menschen traumatisiert. Dazu kommt, dass das Thema Intersexualität innerhalb von Familie und sozialem Umfeld oft tabuisiert wurde. Diese Spätfolgen, mit denen Intersexuelle ihr Leben lang zu kämpfen hatten und haben, führten nicht selten zu Psychiatrieaufenthalten oder gar zum Suizid.

Intersexualität im deutschen Südwesten:
Forschungsdesiderate und Forschungsfragen

Über die Situation von intersexuellen Menschen im Südwesten Deutschlands wurde bisher nur wenig geforscht. Eine Dokumentation auf dem Blog zwischengeschlecht.org stellt erste Ergebnisse für Baden-Württemberg zusammen. Daher ist etwa bekannt, dass an der Universitätsklinik Tübingen seit 1968 mit Jürgen Bierich ein prominenter Befürworter von „geschlechtsangleichenden“ Operationen die Kinderheilkunde leitete. Bierich vertrat schon seit den 1950er Jahren offensiv operative Eingriffe an Kleinkindern wie etwa die Entfernung einer angeblich „vermännlichten“ Klitoris.

„Die operative Korrektur […] der vermännlichten Genitalien […] ist aus mehreren Gründen indiziert, 1. um eine regelrechte Funktion der Vagina zu ermöglichen, 2. um die unangenehmen Klitoriserektionen zu verhindern, 3. um seelische Konflikte zu vermeiden, die den Mädchen aus dem Vorhandensein männlicher Attribute erwachsen können. Nach Möglichkeit soll die Operation schon vor dem vierten Lebensjahr durchgeführt werden. Bei leichteren Fällen ist lediglich die Entfernung der Klitoris erforderlich. […] Wie Hampson (1956) bei einer größeren Reihe operierter Frauen festgestellt hat, leidet die Orgasmusfähigkeit durch die Klitorisentfernung nicht.“

Jürgen W. Bierich in: Claus Overzier, Die Intersexualität, Stuttgart 1961, S. 387. Die angesprochene Studie Joan Hampsons hatte lediglich sechs Versuchspersonen untersucht, wurde aber häufig zitiert, um Klitorisamputationen zu rechtfertigen.

Bilderwand sexuelle Zwischenstufen, Institut für Sexualforschung

Die Bilderwand „Sexuelle Zwischenstufen“ im Institut für Sexualforschung. Menschen mit sowohl weiblichen als auch männlichen körperlichen Merkmalen wurden bei Magnus Hirschfeld unter die größere Kategorie der sexuellen Zwischenstufen gefasst. Quelle: Arbeiter Illustrierte Zeitung, 23.5.1928, Archiv der Magnus Hirschfeld Gesellschaft Berlin.

Das Projekt soll Grundlagenforschung zu vielen offenen Fragen betreiben: Wie gingen Medizin und Psychiatrie im deutschen Südwesten mit intersexuellen Menschen um? Wurden sie während der NS-Zeit zu Opfern sogenannter eugenischer Zwangsmaßnahmen wie etwa erzwungener Sterilisationen oder sonstiger Operationen?

Wann etablierte sich das Baltimorer Modell im deutschen Südwesten? Wer traf die medizinischen Entscheidungen, und wer führte sie aus? Wie gingen die Betroffenen mit den physischen und psychischen Folgen von erzwungenen Operationen um? Und wie war ihr individueller Umgang mit der eigenen geschlechtlichen Identität in einer Gesellschaft, die erheblichen Zwang zur geschlechtlichen Eindeutigkeit ausübte?

nr, kp

Weiterlesen

Bauer, Markus; Zwischengeschlecht.org (2014): Dokumentation: Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM) in Baden-Württemberg.

Klöppel, Ulrike (2010): XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld: transcript Verlag (GenderCodes. Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht, 12).

Klöppel, Ulrike (2015): Intersex im Nationalsozialismus. Ein Überblick über den Forschungsbedarf. In: Michael Schwartz (Hg.): Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung (Schriftenreihe/Bundeszentrale für Politische Bildung, 1572), S. 100-107.

Voß, Heinz-Jürgen (2012): Intersexualität – Intersex. Eine Intervention. 1. Aufl. Münster: Unrast-Verl. (Unrast transparent Geschlechterdschungel, 1).