Sexualwissenschaft im Kaiserreich und der Weimarer Republik

Das späte 19. Jahrhundert war in Mitteleuropa eine Zeit, die einerseits von prüder Sexual- und Geschlechtermoral geprägt war, in der andererseits aber viel über Sexualität gesprochen wurde. Medizin und Wissenschaft lösten die Kirchen in  der Deutung des Menschen ab. In dieser Zeit entstanden Subkulturen von verschiedenen sexuellen und geschlechtlichen Lebensweisen.

Richard von Krafft-Ebing: Ein Badener legt
die Grundlagen der Sexualwissenschaft

Krafft-Ebing

Richard von Krafft-Ebing mit seiner Frau Maria Luise von Krafft-Ebing, Gemeinfrei 

Als einer der ersten Sexualwissenschaftler gilt der Badener Richard von Krafft-Ebing (1840-1902). Er war von Haus aus Mediziner und spezialisierte sich an der Schnittstelle von Psychiatrie und Gerichtsmedizin. Seine Karriere als Psychiater startete Krafft-Ebing in der badischen Nervenheilanstalt Illenau, als Nervenarzt in Baden-Baden und als Professor in Straßburg. Sein weiterer Lebensweg führte ihn aus Baden nach Graz und Wien.

Krafft-Ebing trug hauptsächlich dazu bei, dass die Sexualität von Straftäter_innen im Prozess relevant wurde. Er etablierte den Psychiater als wichtigen Sachverständigen vor Gericht; von Psychiaterinnen war zu seiner Zeit noch keine Rede. Dies war ein wichtiger Schritt hin zu einer Urteilspraxis, die nicht allein die Tat, sondern die Persönlichkeit von Täter_innen beurteilte und verurteilte.

Krafft-Ebings Schwerpunkt galt den verschiedenen Spielarten der Sexualität, die er in seinem berühmten Hauptwerk „Psychopathia Sexualis“  (1886) behandelte. Sexuelle Präferenzen und Verhaltensweisen wurden darin als psychopathische Störungen oder Krankheitsbilder vorgestellt. So deutete er auch gleichgeschlechtliche Sexualität als angeborene krankhafte Verhaltensstörung. Daraus schloss er, die „conträr“ Empfindenen seien für ihr Tun nicht selbst verantwortlich. Auf dieser Grundlage sprach Krafft-Ebing sich gegen die Kriminalisierung von mann-männlicher Sexualität aus. Zugleich ebnete er den Weg für eine Pathologisierung sexueller Vorlieben und für die bis heute verbreitete Vorstellung, Homosexualität sei eine Krankheit.

Karl Heinrich Ulrichs: Ein Jurist kämpft
für die rechtliche Gleichstellung der „Urninge“

Der Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) führte für gleichgeschlechtlich Liebende den Begriff der Urninde und des Urnings (oder auch Uraniers oder Dionings) ein. Ulrichs, selbst offen homosexuell lebend, setzte sich für die juristische Gleichstellung der Urninge, für eine Entkriminalisierung und für die Möglichkeit der gleichgeschlechtlichen Eheschließung ein. 1867 machte er diese Forderungen erstmals auf dem Juristentag öffentlich und brachte damit die versammelten Juristen gegen sich auf. Der aus Norddeutschland stammende Ulrichs lebte von 1870 bis 1880 in Stuttgart, wo er seit 2015 mit dem Karl-Heinrich-Ulrichs-Platz geehrt wird.

Hirschfelds Zwischenstufenmodell

Um die Wende zum 20. Jahrhundert brachte das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee (WHK) das Thema Homosexualität zentral in die sexualwissenschaftliche Debatte ein. Das WHK, 1897 als Selbstorganisation homosexueller Männer gegründet, leistete Lobbyarbeit gegen die Kriminalisierung männlicher Homosexualität und für die Umsetzung von Sexualreformen. Zugleich trieb es unter Federführung Magnus Hirschfelds die wissenschaftliche Erforschung von Homosexualität voran.

Magnus Hirschfeld Gesellschaft, Magnus Hirschfeld 1920er Jahre

Magnus Hirschfeld in den 1920er Jahren. Quelle: Archiv der Magnus Hirschfeld-Gesellschaft Berlin.

Hirschfeld erarbeitete eine Theorie der sexuellen Zwischenstufen. Wie vor ihm Krafft-Ebing, ging Hirschfeld von dem Gedanken aus, Homosexualität sei angeboren. Damit könne dem einzelnen Homosexuellen keine Schuld für sein sexuelles Handeln gegeben werden. Dies war eine wichtige Grundlage der Forderung, mann-männliche Sexualität zu legalisieren.

Hirschfelds Theorie baute auf der Forschung von Karl-Heinrich Ulrichs auf, der von einem dritten Geschlecht ausging, das sich nicht wie die beiden „normalen“ Geschlechter verhielt. Statt eines dritten Geschlechts konzipierte Hirschfeld ein Stufenmodell von Geschlechtern. Zwischen den beiden Idealtypen des „Vollmanns“ und des „Vollweibs“, die eindeutig männlich oder weiblich seien, machte Hirschfeld eine Vielzahl von Zwischenstufen aus, in denen sich weibliche und männliche Eigenschaften und Merkmale vermischten. Insgesamt, so rechnete er aus, gebe es 43 046 721 solcher Zwischenstufen. Homosexualität beschrieb Hirschfeld als eine solche Zwischenstufe.

Homosexuelle Männer wurden von ihm als effeminierte Männer wahrgenommen, die in Körperbau, Bewegungen und Wesensart weiblich erscheinen. Andere Homosexuellenverbände, wie etwa die Gemeinschaft der Eigenen und der Freundschaftsbund, waren mit dieser verweiblichten Figur des männlichen Homosexuellen allerdings nicht einverstanden und entwarfen den homosexuellen Mann vielmehr als männliche Figur in männerbündischen Zusammenhängen.

Kampf um Sexualreformen

Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik stand die Auseinandersetzung mit Sexualität in engem Zusammenhang mit sozialen Fragen. Proletarische Familien in Stadt und Land lebten in Armut, und ihr Wohnraum war knapp, so dass sich viele Menschen auf wenig Platz drängten und massenhaft krank wurden. Ledige Mütter mussten, verachtet von der Gesellschaft, von geringen Löhnen allein für ihr Kind sorgen, und ungewollt schwangere Frauen gefährdeten ihr eigenes Leben beim Versuch einer Abtreibung. Viele Frauen und junge Männer hielten sich allein mit Prostitution über Wasser. Und in allen gesellschaftlichen Schichten grassierten die Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten.

Diese sozialen Probleme erforderten einen weiten Blick auf Fragen der Sexualität, auf Themen wie Geburtenkontrolle, Verhütung, Geschlechtskrankheiten oder Abtreibung. Zugleich eröffneten verschiedene Reform- und Emanzipationsbewegungen Debatten um freie Liebe, Gleichberechtigung und eine liberalere Sexualgesetzgebung.

Die homosexuelle Emanzipationsbewegung stand in engem Kontakt mit anderen sexualreformerischen Verbänden.  Besonders mit dem Bund für Mutterschutz gab es eine enge Zusammenarbeit. Dieser Verband gehörte der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung an und setzte sich für ledige Mütter und uneheliche Kinder ein. Gemeinsam kämpften der Bund für Mutterschutz und das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee für die Legalisierung männlicher Homosexualität, für die Möglichkeit der Abtreibung und für liberalere Regelungen in den Bereichen Ehe und Prostitution. Um solche Themen wurden heftige öffentliche Auseinandersetzungen geführt. So sorgte das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 mit seinen Regelungen, die Ehefrauen im Prinzip zu weitgehend rechtlosen Dienerinnen ihrer Gatten machte, für einen „Frauenlandsturm“.

Die Sexualreformbewegungen waren zugleich Sammelbecken für eugenisches Gedankengut. Die Idee eines „gesunden Volkes“ war ausgesprochen modern und gehörte seit der Wende zum 20. Jahrhundert zum Denken sehr vieler reformerischer Strömungen. Auch Hirschfeld und seinen Mitstreiter_innen waren eugenische Gedanken und Ideen wie Zwangssterilisationen nicht fremd und wurden teilweise positiv diskutiert. Eugenik war keineswegs allein eine nationalsozialistische Idee. Wie in anderen Bereichen griff der NS vorhandene Konzepte und Ideen auf und mischte sie neu. Vor allem setzte der NS solche Ideen in großem Maßstab mit zuvor nicht gekannter Effizienz und Grausamkeit um.  Erst unter dem nationalsozialistischen Regime wurden eugenische Ideen zu Instrumenten des Massenmords.

Das Institut für Sexualwissenschaft

Gr-nder Institut

Die drei Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft Arthur Kronfeld, Magnus Hirschfeld und Friedrich Wertheim. Das Bild wurde vermutlich in den ersten beiden Jahren nach der Gründung des Instituts 1919 aufgenommen, da Friedrich Wertheim das Institut bereits 1921 wieder verließ.  Quelle: Archiv der Magnus Hirschfeld-Gesellschaft Berlin, Sammlung Manfred Baumgardt.

Kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs gründete Hirschfeld gemeinsam mit dem Psychiater Arthur Kronfeld und dem Hautarzt Friedrich Wertheim das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin Tiergarten. Hier hatten mehrere Ärzte ihre Praxisräume. Ein wichtiger Teil der Arbeit des Instituts waren  Beratungen zu verschiedensten Themen: Sexualität, Sexual- und Potenzstörungen, Verhütung und Kinderlosigkeit, Geschlechtskrankheiten,  Ehetauglichkeit oder Gesundheitszeugnisse. Das Institut übernahm häufig Gutachten vor Gericht, die auch eine wichtige finanzielle Einnahmequelle bildeten. Außerdem organisierten Hirschfeld und seine Mitstreiter_innen Vorträge und Filmvorführungen, gaben Kurse für Ärzt_innen, Studenten_innen und Jurist_innen und machten so ihr Anliegen öffentlich.

Hirschfeld, sein Lebensgefährte Karl Giese und andere Mitglieder des Instituts hatten ihre Privatwohnungen in dem Gebäude am Tiergarten. Andere Zimmer waren an Freund_innen des Instituts vermietet, wie etwa an den KPD-Funktionär Willi Münzenberg und seine Frau Babette Groß. Verschiedene politische und reformerische Verbände nutzten die Räumlichkeiten, und mehrere Zimmer standen für auswärtige Gäste zur Verfügung. Mehrere Menschen aus der homosexuellen und transvestitischen Subkultur waren als Hauspersonal beschäftigt. So wurde das Institut zu einem Sammelbecken für Homosexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche, für Ärzt_innen und Wissenschaftler_innen, für Frauenrechtler_innen und Kommunist_innen.

Die Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft

Die Nationalsozialist_innen betrachteten Hirschfeld von Beginn an als ihren Feind. Das lag nicht allein an seinem Einsatz für Homosexuelle und seiner sexualwissenschaftlichen Forschung, sondern auch daran, dass er ein jüdischer Intellektueller war und der Sozialdemokratie nahestand. Auch der Institutsmitbegründer Arthur Kronfeld war jüdischer Sozialdemokrat. Schon zu Beginn der NS-Herrschaft wurde das Institut für Sexualwissenschaft geplündert und geschlossen. Ein Augenzeuge berichtete, wie nationalsozialistische Studenten am 6. Mai 1933 das Institut verwüsteten, untermalt von Blasmusik einer nationalsozialistischen Kapelle. Am Nachmittag desselben Tages rückte auch noch die SA an und plünderte, was die Studenten am Vormittag nicht mitgenommen hatten. Die Bibliothek des Instituts wurde am 10. Mai zusammen mit tausenden anderen Büchern in Berlin verbrannt.

Bucherverbrennung-book-burning-Nazi-1933-Institute

Aufmarsch von Nationalsozialisten vor dem Institut für Sexualwissenschaft kurz vor dessen Plünderung im Mai 1933, Gemeinfrei.

Die Plünderung des Instituts für Sexualwissenschaft markiert symbolisch das vorläufige Ende einer emanzipatorischen deutschen Sexualwissenschaft. Bis dahin war diese Wissenschaft international hoch geachtet, und ausgesprochen viele entscheidende Ansätze und Theorien waren von ihr ausgegangen.

Hirschfeld befand sich während der Plünderungen, Zerstörungen und Verbrennungen im Ausland. Er kehrte nicht nach Deutschland zurück. Auch andere Sexualforscher_innen gingen ins Exil.

Die Sexualforschung, die nach 1933 in Deutschland fortgeführt wurde, folgte der Linie der nationalsozialistischen Ideologie und bot wenig Raum für emanzipatorische Ansätze.

Sexualwissenschaft nach 1945:
Der Kinsey-Report sorgt für Aufsehen

Nach dem Krieg versuchte der Sexualwissenschaftler Hans Giese, die deutsche Sexualwissenschaft wiederzubeleben. Selbst ehemals Teil der NSDAP, knüpfte Giese Kontakte zu diversen Wissenschaftlern, die bis 1945 im Rahmen nationalsozialistischer Ideologie geforscht hatten. Auch mit Experten der Vernichtungspolitik arbeitete er zusammen. Aber auch Männer, die mehr der traditionell reformerischen Richtung der Sexualwissenschaft zugerechnet werden können, gewann Giese für eine Zusammenarbeit. Ein wichtiger Schwerpunkt für den selbst homosexuellen Giese war die Erforschung von Homosexualität. Auch leistete  er  engagiert Lobbyarbeit für die Legalisierung mann-männlicher  Sexualität.

In England erforschte  die deutsche Psychologin Charlotte Wolff  lesbische und Bisexualität. Wolff war 1933 aus Deutschland geflohen, nachdem sie als jüdische Frau und lesbische Cross-Dresserin 1933 durch die Gestapo der Spionage beschuldigt worden war. In den frühen 1960er Jahren wandte sie sich der Sexualwissenschaft  zu und wurde auch als Biographin Magnus Hirschfelds bekannt.

Die meist beachtete Forschung kam in den 1940er und 1950er Jahren allerdings aus den USA. Dort veröffentliche der Biologe Alfred Charles Kinsey Studien über männliches und weibliches Sexualverhalten, die als Kinsey-Reporte internationales Aufsehen erregten. Kinsey und seine Mitarbeiter_innen führten über 20.000 Interviews mit US-Amerikaner_innen über ihr sexuelles Verhalten und ihre sexuellen Phantasien. Der Befund: Fast die Hälfte der Befragten war in ihrem Verhalten oder ihrem Begehren bisexuell. Darauf aufbauend entwickelte Kinsey die sogenannte Kinsey-Skala, die zwischen den Polen  Hetero- und Homosexualität  ein breites Feld sexueller Variationen zeigte. Damit widerlegte Kinsey die geläufige Vorstellung, jeder Mensch sei eindeutig entweder homo- oder heterosexuell.

Kinseys Studien prägten diverse Beiträge in den Debatten um die Strafrechtsreform der 1960er Jahre und die Abschaffung des § 175 StGB. Seine Arbeiten wurden auch zu einem wichtigen Wegbereiter der „sexuellen Revolution“, die Ende der 1960er Jahre die Bundesrepublik erreichte und etliche Berührungspunkte mit der homosexuellen Emanzipationsbewegung hatte. Zwar konzentrierte sich die „sexuelle Revolution“ auf heterosexuelle Sexualität, lehnte aber wie die homosexuelle Emanzipationsbewegung das konservative Sittengesetz ab, das jegliche Sexualität außerhalb der Ehe verdammte.

nr, kp

Weiterlesen

Herzer, Manfred (2001): Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Campus-Verl.

Magnus Hirschfeld-Gesellschaft (1994): Institut für Sexualwissenschaft (1919-1933). Eine Online-Ausstellung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft.

Sigusch, Volkmar; Grau, Günter (2008): Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt, New York: Campus.

Steinbacher, Sybille (2011): Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik. München: Siedler.