Mit welchen Quellen erforschen wir LSBTTIQ-Geschichte?

Strafverfahrensakten als Quellen

Ein Pappeinband hält den Stapel einzelner Seiten zusammen – Papier, schreibmaschinenbeschrieben, an den Rändern Anmerkungen, Korrekturen und Aktenzeichen per Hand eingefügt. Verhöre, Anklageschriften, Sachverständigen-Gutachten von Ärzten und Psychiatern, Beweismaterial in Form von privaten Briefen oder Zeitschriften für Homosexuelle, schließlich das Protokoll der Gerichtsverhandlung.

Erich Sch., Aktendeckel-001

Mit Aktendeckeln wie diesem wurden Gerichtsakten zur Aufbewahrung versehen. Der Pappeinband gibt Auskunft darüber, vor welchem Gericht das Verfahren angesetzt war, wer angeklagt war und wann die Verhandlung stattfand. Das Aktenzeichen stammt aus der Zeit des Verfahrens selbst, die Aufschrift „StAF A 25/1 593“ wurde vom aufbewahrenden Archiv (in diesem Fall dem Staatsarchiv Freiburg) hinzugefügt und stellt die archivalische Signatur dar. Das Datum links unten, 1957, markiert das Jahr, in dem die Akte aus den Archiven des Landesgerichts aussortiert werden sollte. Archivalien werden in den Behörden selbst nur für eine bestimmte Zeit aufbewahrt und werden dann entweder vernichtet oder kommen zum zuständigen Archiv. Quelle: StA F A 25/1 593.

So sehen die meisten Akten der Strafverfahren gegen homosexuelle Männer aus. Diese Dokumente geben ausführlich Auskunft über den Verlauf der Prozesse auf Grundlage von Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, über die Ermittlungen der Polizei und die Verteidigungsstrategien der Angeklagten. Gleichzeitig wurde das private und sexuelle Leben der angeklagten Männer bis in intimste Details protokolliert, so dass die Gerichtsakten auch Auskunft geben über homosexuelle Lebenswelten und Subkulturen, über Lebensläufe, Partnerschaften und die Organisation sexueller Verhältnisse. Allerdings sind solche Auskünfte äußerst quellenkritisch zu lesen, da sie im Rahmen von Verfolgung und Verteidigung entstanden.

Baden-Württemberg besitzt eine außergewöhnlich gute Quellenüberlieferung der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer. In vielen anderen Bundesländern wurden die entsprechenden Gerichtsakten als nicht der Aufbewahrung wert befunden und vernichtet. Dagegen liegen in den verschiedenen Zweigstellen des Landesarchivs Baden-Württemberg wahre Schätze an Quellenmaterial. Hier findet sich eine weitgehend lückenlose Überlieferung der Gerichtsverfahren auf Grundlage von Paragraf 175 und 175a des Strafgesetzbuches sowie  Personalakten von Gefangenen im Strafvollzug. Ein Teil der Verfahrensakten wurde zwar während des Kriegs zerstört, doch der Großteil der Bestände blieb unversehrt und kann für die Forschung genutzt werden.

Im Zuge von Vorrecherchen konnten die Bestände bereits gesichtet und stichprobenartig ausgewertet werden; etwa 1000 Akten wurden auf diese Weise quantitativ erfasst. Während viele Dokumente bereits in Findbüchern erschlossen sind, können wir nur schätzen, wie viele noch unerschlossene Akten in Magazinen des Landesarchivs lagern. Diese Bestände müssen noch bearbeitet und verschlagwortet werden, bevor sie in den Findbüchern und Online-Datenbanken der Archive auftauchen. Ein Ziel des Forschungsprojekts ist es daher, die Bestände zur Strafverfolgung homosexueller Männer in Zusammenarbeit mit den Archiven möglichst umfassend zu erschließen und damit auch für weitere Forschung zugänglich zu machen.

Quellen des Polizeiterrors

Eine der zentralen Stellen der Homosexuellenverfolgung war die Polizei. Leider existiert ein großer Teil der südwestdeutschen Polizeiakten aus dem Nationalsozialismus nicht mehr. Viele Aktenbestände aus Baden, Württemberg und Hohenzollern wurden durch Luftangriffe zerstört oder vor Kriegsende von den Täter_innen bewusst vernichtet. Die noch vorhandenen Akten wurden nach dem Krieg von den Alliierten beschlagnahmt und teilweise wieder zurückgegeben. Akten der Polizeidienststelle Stuttgart und der badischen und württembergischen Sicherheitspolizei  befinden sich nun im Staatsarchiv Ludwigsburg. Diese Bestände geben allerdings wenig Auskunft über die  Verfolgung männlicher Homosexualität.

Besser ist die Überlieferung für die Zeit nach 1945. In den einzelnen Stadtarchiven finden wir Informationen über das Vorgehen des Polizeiapparats bei der Verfolgung von männlicher Homosexualität: Berichte von der Überwachung verschiedener Treffpunkte, Maßnahmen gegen männliche Homosexualität oder Personalinformationen der zuständigen Kriminalbeamten.

KZ-Gedenkstätten

Der nationalsozialistische Terror, der etwa 5000 homosexuelle Männer in Konzentrationslager brachte, lässt sich am besten in den Archiven von KZ-Gedenkstätten untersuchen. Für Baden und Württemberg sind hier vor allem die Konzentrationslager Dachau und Natzweiler-Struthof aufschlussreich, in denen viele badische und württembergische Homosexuelle inhaftiert und ermordet wurden, aber auch die Emslandlager oder das Frauenlager Ravensbrück.

Quellen zur LSBTTIQ-Geschichte jenseits der Strafverfolgung

Zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer gibt es, wie wir sehen, zahlreiche und relativ einfach zugängliche Dokumente. Quellen zur Geschichte von lesbischen und bisexuellen Frauen oder von transsexuellen, transgender und intersexuellen Menschen sind schwieriger zu finden. Dies liegt nicht daran, dass es keine solchen Quellen gäbe. Aber es erfordert Kreativität und Ausdauer, um sie zu finden. Weitet man die Quellensuche auf alltagsgeschichtliche Quellen aus, auf Erinnerungsliteratur, auf Akten der Krankenhäuser, Psychiatrien und der Jugendfürsorge, finden sich an den verschiedensten Stellen Hinweise auf LSBTTIQ-Geschichte.

Zivilgerichtsverfahren als Quellen der LSBTTIQ-Geschichte

Scheidungsakten, Vormundschaftsverfahren oder Disziplinarverfahren von homo- oder transsexuellen Beamt_innen, Lehrer_innen, Krankenschwestern oder Kirchenmitarbeiter_innen können Einblicke in die Repression gegen LSBTTIQ geben.

Stadtarchiv Heilbronn, B 019, Sozialamt 40, 38.6 Jugendschutz, S. 29

Schreiben der Heilbronner Stadtverwaltung an die lokalen Zeitschriftenhändler_innen als Maßnahme im Kampf gegen „jugendgefährdende“ Schriften, 1952. Zeitschriften für Homosexuelle sollten – neben anderen Zeitschriften und Büchern, die als jugendgefährdend angesehen waren – nicht mehr offen ausgelegt und an Jugendliche verkauft werden. Quelle: Stadtarchiv Heilbronn, B 019, Sozialamt 40, 38.6 Jugendschutz, S. 35.

Auch Kuppelei war historisch ein Straftatbestand, der im Kontext von LSBTTIQ-Geschichte aussichtsreich untersucht werden kann. Und in vielen strafrechtlichen Verfahren  war die Richtung des sexuellen Begehrens der Angeklagten für das Strafmaß von Belang. Es bietet sich ist also an, Gerichtsakten in großem Maßstab auszuwerten und auf Hinweise zum Umgang mit Homo- und Transsexualität zu befragen.

Dokumente der Jugendfürsorge und des Jugendschutzes

Bisher noch kaum untersucht und sicher aufschlussreich für die heterosexuelle Normierung von Erziehung sowie die Sanktionierung homosexuellen Verhaltens ist das Feld der Jugendfürsorge. Mögliche Quellen wären hier Vormundschaftsverfahren, Bestände aus Kinderheimen oder Unterlagen von Stellen, die Sexualaufklärung betrieben. Auch Indizierungsverfahren von Schriften, die als jugendgefährdend galten (in der Bundesrepublik durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Bonn), geben wichtige Hinweise auf den Umgang mit Homo-, Bi- und Transsexualität.

Medizinische und psychiatrische Dokumente

Zur Erforschung des medizinischen und psychiatrischen Umgangs mit LSBTTIQ kann man Patient_innenakten aus Krankenhäusern und sogenannten Heilanstalten (die heute Psychiatrien heißen) untersuchen. Solche Akten liegen in den einzelnen Zweigstellen des Landesarchivs Baden-Württemberg oder, sofern es sich um private oder kirchliche Kliniken handelt, in Stadtarchiven.

Auch die medizinische und psychiatrische Forschung und Lehre liefert wichtige Quellenbestände: An den Universitäten lernten die angehenden Ärzt_innen und Psychiater_innen, wie mit Trans- und Homosexualität umzugehen sei. Die Vorstellung, dass Trans- und Homosexualität Krankheiten seien, wurde hier an Generationen von Studierenden weitergegeben und damit am Leben erhalten. Daher lohnt es sich, medizinische und psychiatrische Fachpublikationen und Lehrbücher zu analysieren.

Egodokumente und Oral History

Briefe, Tagebücher, persönliche Notizen, Fotografien, selbstgedrehte Filme oder künstlerische Arbeiten sind als sogenannten „Ego-Dokumente“ wichtige Quellen zur Erforschung von Alltagserfahrungen, Lebenswegen und subjektivem Erleben.

Erinnerungsliteratur, die Homo-, Trans- oder Intersexualität thematisiert, ist nur äußerst selten veröffentlicht. Entsprechende Zeugnisse entstanden erst seit den 1970er Jahren in Zusammenhang mit der Liberalisierung des Paragrafen 175 StGB und der Wahrnehmung homosexueller Männer als Opfergruppe des Nationalsozialismus. Die bis in die Gegenwart vorhandene Leerstelle in der sonst so reichhaltigen deutschen Erinnerungsliteraturlandschaft zeigt deutlich, wie negativ das Thema bis heute besetzt ist: Viele Opfer schweigen auch im Nachhinein noch. Auch Erinnerungsliteratur lesbischen Lebens, transgender, trans- und intersexueller Menschen ist kaum veröffentlicht.

Eine wichtige Möglichkeit, die Geschichten von LSBTTIQ zu bewahren und für die Forschung zu nutzen, sind Interviews mit Zeitzeug_innen. Zwar legt das Gedächtnis generell Erlebnisse nicht 1:1 ab und ruft sie später exakt so wieder auf. Daher sind Jahresangaben, Daten und Fakten nicht unkompliziert zu nutzen. Aber als Erzählungen von Gefühlen, Erfahrungen, Eindrücken sind lebensgeschichtliche Erinnerungen ein unersetzlicher Zugang zur Geschichte. Auch können Interviews wertvolle Hinweise auf Personen, Orte oder Netzwerke enthalten, mit denen wir weiter forschen können. In Kooperation mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld führt das Forschungsprojekt videografierte Gespräche mit LSBTTIQ-Zeitzeug_innen aus Baden-Württemberg oder ihren Nachfahr_innen. Diese Interviews sind wichtige Grundlagen für die Forschung und tragen zugleich dazu bei, die Erfahrungen von LSBTTIQ sichtbarer zu machen und für die Zukunft zu bewahren.

Presse als Quelle der LSBTTIQ-Geschichte

freond

freond. Halbmonatsschrift für ideale Freundschaft Nr. 16/1952.

Aus zeitgenössischen Zeitschriften für Homosexuelle lässt sich viel über Subkulturen, Lebenswelten und emanzipatorische Bewegungen erfahren. In den 1920er Jahren gab es verschiedene solcher Blätter, in der NS-Zeit existierte jedoch keine homosexuelle deutsche Presse, da alle Zeitschriften 1933 eingestellt werden mussten. Bald nach dem Krieg entstanden neue Zeitschriften der homosexuellen Presse. Zusätzlich zu dieser Perspektive liefert eine systematische Auswertung der lokalen und regionalen Presse wichtige Einblicke in die medialen Darstellungen von Homo- und Transsexualität. Da die Medien die öffentliche Meinung nachhaltig prägten, gibt die Analyse der Presse nicht zuletzt auch Hinweise auf Haltungen zu Homo- und Transsexualität im gesellschaftlichen Mainstream.

Wichtige Archivstandorte für LSBTTIQ-Geschichte
in Baden, Württemberg und Hohenzollern

Landesarchiv Baden-Württemberg: Hier liegen Gerichtsakten der badischen, württembergischen und hohenzollerischen Landesgerichte und damit auch die Verfahren nach Paragraf 175 StGB. Außerdem sind hier badische und württembergische Polizeiakten aus der NS-Zeit zu finden sowie Patient_innenakten aus den staatlichen Kliniken und Heilanstalten. Das Landesarchiv umfasst folgende Archive mit für das Forschungsprojekt relevanten Beständen:
Hauptstaatsarchiv Stuttgart: Unterlagen der obersten Landesbehörden (Landesministerien) Württembergs und Baden-Württembergs.
• Staatsarchiv Ludwigsburg: Verwaltungs- und Gerichtsakten des Regierungsbezirks Stuttgart, Wiedergutmachungs- und Rückerstattungsfälle von NS-Opfern aus Baden und Württemberg, Akten aus staatlichen Kliniken, Akten der Heilanstalt Weinsberg.
• Staatsarchiv Freiburg: Verwaltungs- und Gerichtsakten des Regierungsbezirks Freiburg, Akten der Zentralbehörden Südbadens 1945-52 (Schriftgut der Ministerien, des Landtags, des Staatsgerichtshofs und der Staatskanzlei), Patient_innenakten aus staatlichen Kliniken, Akten der badischen Heilanstalten Emmendingen und Illenau.
• Generallandesarchiv Karlsruhe: Unterlagen der obersten Landesbehörden des Großherzogtum Baden, Verwaltungs- und Gerichtsakten des Regierungsbezirks Karlsruhe, Akten aus staatlichen Kliniken und Heilanstalten.
• Staatsarchiv Sigmaringen: Verwaltungs- und Gerichtsakten des Regierungsbezirks Tübingen, Akten der Zentralbehörden Württemberg-Hohenzollerns 1945-1952, Akten aus staatlichen Kliniken und Heilanstalten.

Französische Staatsarchive: In den französischen Hauptstaatsarchivstellen Colmar (Oberelsaß) und Strasbourg (Unterelsaß) sind Unterlagen der Justiz und Polizei aufbewahrt, mit denen wir die Verfolgung männlicher Homosexueller im annektierten Elsass untersuchen können.

Stadtarchive: In den vielen Stadtarchiven Baden-Württembergs liegen Akten der lokalen Polizei aus der Zeit nach 1945, Unterlagen aus den städtische Kliniken und Pflegeanstalten oder Dokumente der lokalen Jugendfürsorge. Auch finden sich hier Quellen städtischer Wirtschaftsämter, die etwa für die Erteilung und Einziehung von Konzessionen für Lokale zuständig waren.

Archive von KZ-Gedenkstätten: Hier finden sich Unterlagen zur Organisation des Lagersystems und Hinweise auf die dort inhaftierten Menschen. Um Verfolgten aus Baden-Württemberg nachzuspüren, sind vor allem die Konzentrationslager Dachau, Natzweiler-Struthof und Sachsenhausen, die Emslandlager und – zur Erforschung des Schicksals lesbischer Gefangener – die Frauenlager Ravensbrück und Gotteszell relevant.

Bundesarchiv Berlin Lichterfelde: Die hier liegenden Unterlagen des ehemaligen Berlin Document Center (BDC) sind der größte Bestand an Personalunterlagen aus der NSDAP und anderen NS-Organisationen. Diese Bestände sind für die Erforschung der Täterseite bedeutend.
Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg: Hier finden sich Unterlagen des Militärs und der Militärgerichtsbarkeit aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik.

Kirchenarchive: In Kirchenarchiven liegen die Unterlagen der lokalen und regionalen Kirchenverwaltungen, so dass sich hier Akten über kirchliche Eheannullierungen und Disziplinierungsmaßnahmen finden lassen oder Dokumente im Zusammenhang mit Prozessen gegen Geistliche nach Paragraf 175 und 175a StGB.

Universitätskliniken und kirchliche Kliniken: Die Krankenakten von Patient_innen staatlicher Kliniken sind in den Stadt- und Landesarchiven zu finden. Daneben lohnt sich ein Blick in die Archive nichtstaatlicher Kliniken, um Dokumente zum medizinischen Umgang mit homosexuellen, transgender, transsexuellen und intergeschlechtlichen Personen zu erhalten.

Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Tübingen: Dieses Archiv sammelt Vereins- und Verbandsakten, Zeitungsausschnitte und Graue Literatur zur lokalen und regionalen Frauengeschichte und Frauenbewegung.

Archiv für soziale Bewegungen Freiburg: Neben anderen sozialen Bewegungen umfasst das Archiv auch Bestände zur regionalen Lesben- und Schwulenbewegung seit den 1970er Jahren.

Spinnboden Lesbenarchiv Berlin: Hier liegt die größte deutsche Sammlung zu lesbischer Geschichte und lesbischer Emanzipationsbewegung seit den 1920er Jahren.

Archiv des Schwulen Museums* Berlin: Das Archiv des Schwulen Museums sammelt Dokumente zu schwulen, lesbischen und bisexuellen Alltagskulturen und Emanzipationsbewegungen. Außerdem verfügt es über eine große Sammlung zu transgeschlechtlicher Subkultur und Geschichte. Neben schriftlichen Quellen gibt es hier eine große Sammlung von Filmen und Kunst.