„… dass in Zukunft Pässe ausgestellt werden können mit zwei Geschlechtern“ (über Kerstin – geb. Karl – Thieme)

Über das Leben von Karl, ab 1976 Kerstin Thieme berichtet die Tochter Juliane Ernst in einem Interview, das im Februar 2016 in deren Wohnung in Stuttgart geführt wurde. Sie begreift das Leben ihres Vaters als das eines Mannes, in dem die weibliche Person immer integriert war. Nach ihrem Eindruck erfolgte die geschlechtsangleichende Operation ihres Vaters 1976 aufgrund von gesellschaftlichem Druck und brachte nicht die erhoffte „Seelenerholung“. Deshalb versteht Juliane Ernst das Interview auch als einen Aufruf an Politik und Gesellschaft, von deren Forderung nach geschlechtlicher Eindeutigkeit einer Person abzurücken.

Kerstin Thieme wurde am 23. Juni 1909 in Niederschlema im Erzgebirge als Karl Thieme geboren. Sie starb als bekannte Komponistin, Kompositionslehrerin, Musikpädagogin und Musikschriften-autorin am 26. November 2001 in Stuttgart.

Nach dem Abitur an der Oberrealschule in Aue studierte Karl Thieme von 1929 bis 1934 Schulmusik und Komposition bei Hermann Grabner an der Hochschule für Musik in Leipzig. 1933 legte er das Staatsexamen für das Lehramt an Höheren Schulen ab und wurde 1934 mit einer Arbeit über das Thema „Klangstil des Mozartorchesters“ promoviert. Erste Lehrtätigkeiten in Leipzig folgten. 1937 erfolgte die Heirat mit Grete Hedler (1910 -2001), die wie Karl Thieme am Leipziger Konservatorium studiert hatte. 1941 wurde die Tochter Juliane geboren. Von 1939 bis 1945 war Karl Thieme Soldat im Zweiten Weltkrieg. Nach seinem Einsatz an der Ostfront geriet er gegen Ende des Krieges in Italien in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Zurückgekehrt nach Hof, der Heimatstadt der Ehefrau, in welche sie während des Krieges gegangen war, konnte Karl Thieme dort nicht Fuß fassen. Gemeinsam zogen sie nach Leipzig, wo Karl Thieme beim Rundfunk arbeitete. Der politischen Vereinnahmung entging das Ehepaar 1948 durch Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone und ließ sich in Nürnberg nieder. Von 1950 bis 1951 erhielt Karl Thieme dort zunächst eine Anstellung als Studienrat, von 1956 bis 1960 war er Dozent am Konservatorium, wo er Musiktheorie lehrte. Von 1960 bis zu seiner Pensionierung 1974 hatte er eine Dozentur am Lehrstuhl für Musikerziehung an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Karl Thieme erhielt schon seit den 1950er Jahren eine Hormonbehandlung – zunächst mit männlichen, dann mit weiblichen Hormonen. Im privaten Raum bewegte er sich als Frau gekleidet. 1976, zwei Jahre nach der Pensionierung entschloss sich Karl Thieme im Alter von 67 Jahren zu einer geschlechtsangleichenden Operation und nahm den weiblichen Vornamen Kerstin an. Von Ehefrau und Tochter wurde dies mitgetragen und akzeptiert. Kerstin Thieme lebte bis zu ihrem Tod als Frau. Ihre Tätigkeit als Komponistin, in der sie große Unterstützung durch ihre Ehefrau erfuhr, setzte sie bis 1989 fort.

Erste Kompositionserfolge erzielte Kerstin Thieme bereits in der Leipziger Zeit. Hierzu zählt 1934 die Uraufführung der Variationen über ein Thema von Hindemith für großes Orchester im Leipziger Gewandhaus. Schwerpunkte von Kerstin Thiemes Kompositionstätigkeit bildeten vor allem die Vokalmusik und Orchesterwerke. In den Kompositionen mit Texten tritt die menschliche Solo-Stimme zugunsten des Einsatzes von Chören häufig stark zurück, da Kerstin Thieme einem multivokalen Klangkörper großen Wert beimaß. Zu den wichtigen Arbeiten gehören Canticum Hoffnung, ein Triptychon für Sopran solo und gemischten Chor (1973) nach Texten von Nelly Sachs und das Requiem, dessen Uraufführung 1998 in Nürnberg erfolgt.

khs