Alles erforscht? Was es noch zu tun gibt, zeigt der Lebensweg von Hans Diers

Alles erforscht? Was es noch zu tun gibt, zeigt der Lebensweg von Hans Diers

Von Dr. Julia Noah Munier, Forschungsprojekt „Lebenswelten, Repression und Verfolgung von LSBTTIQ in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland“, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Abtl. Neuere Geschichte

Der 17. Mai wurde 2005 zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie erklärt (International Day Against Homophobia, Biphobia, Interphobia and Transphobia, IDAHOBIT). Was bedeutet dieser Tag für die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte der Verfolgung und Diskriminierung sogenannter sexueller Minderheiten in Deutschland? Blicken wir kurz zurück, so ist in diesem Jahr diesbezüglich ein wesentlicher Impuls erfolgt: Am 27. Januar 2023, dem Jahrestag der Befreiung des NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee, wurde in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags erstmals an diejenigen erinnert, die durch das NS-Regime auf Grund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden. Dies ist ein Novum, für das aus den Reihen der Zivilgesellschaft und interessierten Wissenschaft lange gestritten wurde und das zu einer weiteren Erforschung von queerer Geschichte auffordert. Künftig gilt es den Blick auch hier noch einmal zu erweitern, Verschränkungen dieser mit anderen sogenannten Opfergruppen in den Blick zu nehmen und andere Repressionsweisen sichtbar zu machen. Damit wird deutlich, auch weitere Opfergruppen werden ins Blickfeld rücken und es bedarf einer weiteren wissenschaftlichen Erforschung ihrer Verfolgung und Diskriminierung. Hierauf hat auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in ihrer Rede anlässlich der Gedenkstunde hingewiesen.1

Wir mögen heute vielleicht wissen, dass homo- und bisexuelle Männer durch den unter den Nationalsozialisten im Jahr 1935 verschärften § 175 RStGB in die NS-Verfolgungsmaschinerie geraten konnten, dass sie als Staats- und Volksfeinde verfolgt wurden und dass Tausende von ihnen – Schätzungen zufolge waren es zwischen 6.000 und 7.000 – in Konzentrationslager deportiert wurden.2 Weitaus weniger ist über die Zurückdrängung und die spezifische Verfolgung lesbischer Lebensweisen und über die Gewalt gegenüber nicht-heteronormativ lebenden Menschen – etwa von Trans* und Interpersonen – bekannt. Auch die Zerstörung der modernen Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld und dem weltweit einzigartigen Institut für Sexualwissenschaft in Berlin durch die Nationalsozialisten am 6. Mai 1933 riss eine Wunde. Nur schwerlich ließ sich diese Forschungsarbeit in den 1950er Jahren wiederbeleben und noch heute befasst sich die Provenienzforschung mit dem Verbleib der institutseigenen Sammlung, der Schriften, Bücher und Objekte.3

Aber auch in Bezug auf die Verfolgung und die Lebenswelten homo- und bisexueller Männer bleiben viele Fragen offen und weiterhin sind zahlreiche Schicksale unzureichend oder gänzlich unerforscht. Das NS-Unrecht konnte die politische Zeitenwende überdauern und setzte sich fort, indem diese Männer weiter als vorbestraft galten, indem Betroffene nicht entschädigt wurden, indem sie erneut strafverfolgt wurden – schließlich bestanden die § 175 und § 175 a RStGB in der NS-Fassung in der Bundesrepublik fort – oder indem ihr Schicksal dem Vergessen anheimfiel.4 Dies zeigt auch der Lebensweg von Hans Diers, eigentlich Dr. Hans Diers, geboren 1902 bei Hamburg. In Baden, wo er sich in den 1930er Jahren aufhielt, wurde er gleich zweimal aufgrund homosexueller Handlungen verurteilt und schließlich im Winter 1940 im KZ-Sachsenhausen ermordet. Er wurde von den Nationalsozialisten u.a. auch als Berufsverbrecher kategorisiert. Die Untersuchung diesbezüglicher Schicksale gäbe sicherlich auch weiter Aufschluss über verfolgte homo- und bisexuelle Männer.

Hans Joachim Otto Diers, geboren am 7. Mai 1902 in Groß-Flottbek bei Hamburg, studierte nach dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium Rechtswissenschaft in Berlin und Volkswirtschaftslehre in Hamburg und Innsbruck. Zugleich besuchte er die Handelshochschule Berlin und wurde Diplomkaufmann. Seine Eltern, die eher wohlsituiert waren, verließen 1928 Berlin und wanderten als Kaufleute nach Tripolis aus. Mit Mitte Zwanzig dürften sich so für Hans Diers neue Herausforderungen – er musste nun auf eigenen Füßen stehen – und in sexueller Hinsicht auch Freiräume eröffnet haben. Die Kriminalpolizei ertappte ihn jedenfalls 1930 am Berliner Alexanderplatz in der Bahnhofstoilette mit einem Sexualpartner in flagranti. Er wurde vom Schöffengericht Berlin-Mitte im Oktober 1930 noch nach dem alten § 175 RStGB verurteilt. Obwohl er angab nur wechselseitige Onanie ausgeübt zu haben – der alte § 175 RStGB bestrafte nur sogenannte beischlafsähnliche Handlungen – wurde er verurteilt. Über diesen Vorfall am Alexanderplatz berichtete Hans Diers später: Der Zeuge „[…] war ein Polizei-Wachtmeister, der sich im Berliner Fernbahnhof Alexanderplatz durch Heraussägen eines Stückchens von der Decke des Waschraums, der […] getrennt von den Toiletten lag, einen ständigen Beobachtungsposten geschaffen hatte. Wie der Zeuge damals selbst angab, hat er auf diese Weise bis zu 15 Fällen am Tag je zwei Homosexuelle überführt.“5 Diers legte gegen das Urteil – immerhin war er zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt worden – unmittelbar Berufung ein, welche das Landgericht Berlin verwarf. Allerdings wurde ihm statt einer Gefängnisstrafe nun nur noch eine Geldstrafe von 100 RM auferlegt. Gleichwohl wurde die Strafe in seinem Vorstrafenregister vermerkt, eine folgenreiche Formalität.

Im Sommersemester 1933 – dem Jahr der NS-Machtübergabe – schrieb Diers sich an der Universität Innsbruck ein, um sein in Berlin begonnenes Jurastudium fortzuführen.6 Er wurde dort am 10. März 1934 zum Doktor der Staatswissenschaft promoviert. Mit dem klangvollen „Dr. rer. pol.“ vor seinem Namen kehrte Hans Diers nach Berlin zurück, wo der Machtausbau Hitlers in vollem Gange war. Den sogenannten Röhm-Putsch und die Verschärfung des § 175 dürfte Hans Diers als homosexueller Mann und Jurist zur Kenntnis genommen haben. Seinen Unterhalt bestritt der gelernte Diplomkaufmann fortan im KfZ-Versicherungsgewerbe, wo er sich zunehmend spezialisierte. Er war Teilhaber und schließlich Geschäftsführer einer GmbH im Bereich KfZ-Handel und Versicherungen (Cito, Gesellschaft für Versicherungsvermittlung GmbH). Privat war er vermutlich in einer festen Partnerschaft mit einem Mann.7

Den Sommer 1937 verbrachte Hans Diers in Baden-Baden. Er besuchte die Stadt am Fuße des Schwarzwaldes wiederholt und auch 1937 war er dort, um das mondäne Klima zu genießen, um das Casino und andere Vergnügungsstätten zu besuchen und um sich zu amüsieren. Hier geriet er erneut in den Fokus der Verfolgungsbehörden, denn die Verfolgung homo- und bisexueller Männer in Baden nahm um diese Zeit erheblich zu.8

Weil er einem Unteroffizier sexuelle Avancen gemacht hatte und von diesem angezeigt wurde, wurde Hans Diers vom Amtsgericht Baden-Baden am 12. Oktober 1937 zu fünf Wochen Gefängnis verurteilt (§ 175 RStGB). Während dieses Verfahren verhandelt wurde, lernte er in Baden-Baden im Juli oder August 1937 einen 19 Jahre alten Autoschlosser kennen. Diers umwarb den Jüngeren, machte ihm Geschenke und zeigte seine Absichten deutlich. Zurück in Berlin erlebte er eine böse Überraschung. Seine Sommerbekanntschaft versuchte ihn aufgrund seiner Homosexualität zu erpressen.9 Der von Hans Diers umworbene Mann forderte diesen in einem Brief zu Geldzahlungen auf und drohte ihn und seinen Freund Erich bei Unterlassung auffliegen zulassen. Es war um diese Zeit herum, im Oktober 1937, als Hans Diers erstmals anfing sich als Geschäftsführer der GmbH ohne Rücksprache mit den anderen Teilhabern, Vorschüsse auf sein Gehalt auszuzahlen.10 Möglicherweise benötigte er das Geld, um die erpressten Geldsummen, ggf. auch Anwaltskosten zu bezahlen. Ende April 1938 hatte der Kassenstand schließlich einen Fehlbetrag von mehreren tausend Reichsmark.

Zu der Erpressung kamen die Anwaltskosten für das Berufungsverfahren, zu dem sich Hans Diers entschied. Nach der gescheiterten Berufung wurde Hans Diers in seiner Berliner Wohnung in der Lichtenstein Allee 3 a, unmittelbar am Neuen See/ Tiergarten gelegen, abgeholt und zum Vollzug der fünfwöchigen Gefängnisstrafe nach Berlin-Moabit verbracht (18. Mai 1938 bis 22 Juni 1938). Wohl aus Angst, seine Arbeit als Geschäftsführer zu verlieren, gab er in der Firma an, dass er im Urlaub sei.

Bei seiner Festnahme wurde seine Wohnung durchsucht. Ob man hier die Literatur zu Sadomasochismus und Flagellantismus konfiszierte, die einer der heute erhaltenen Akten beiliegen, ist nicht bekannt. Allerdings stellte die Polizei den Erpresserbrief des Autoschlossers aus Baden-Baden fest. Für die Beamten ein Indiz, dass Diers weitere homosexuelle Kontakte eingegangen war, wodurch erneut ein Verfahren gegen ihn eröffnet wurde. Aus der Haft in Berlin-Moabit entließ man ihn daher gar nicht erst, sondern er musste in Untersuchungshaft verbleiben, zunächst in Berlin-Plötzensee, dann in Karlsruhe (Gefängnis II, ab 11. August 1938). Währenddessen wurde er – aufgrund der Verurteilung nach § 175 RStGB – als Geschäftsführer der GmbH fristlos entlassen (5. August 1938).11

Die Anklage beim Landgericht Karlsruhe lautete auf versuchtes Verbrechen nach § 175 a Ziff. 3 RStGB. Diers war also aufgrund des 1935 neu eingeführten Strafrechtsparagrafen angeklagt, der die Verurteilten mit „Zuchthaus bis zu zehn Jahren“ bedrohte.12 Über Hans Diers hieß es in der Anklage des Ersten Staatsanwalts Dr. Lienhart vom 29. September 1938: „Im Übrigen geht aus den bisherigen Vorstrafen des Diers hervor, dass Diers Homosexueller ist, der von seinem Hang nicht abzubringen ist. Er muss als besonders gefährlich angesehen werden.“13 Lienhart wirkte nach 1945 kurzzeitig, unter Paul Zürcher, im Badischen Justizministerium und war in Überlegungen zu einem neuen Strafgesetzbuchentwurf involviert.

Das sommerliche Intermezzo mit dem 19-Jährigen, gepaart mit einer verschärften Strafverfolgung erwischten Hans Diers kalt. Die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe verurteilte den 35-jährigen Hans Diers am 17. November 1938 unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Kurt Hofmann (1934-1951) und den beisitzenden Richtern Landgerichtsräten Dr. Erwin Courtin und Dr. Emil Ibing aufgrund von Unzucht zwischen Männern in Tateinheit mit der Verführung eines Minderjährigen zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr.14 Hans Diers verbüßte die Strafe im Gefängnis Freiburg i. Br., wo er um die Jahreswende 1938/1939 eingeliefert wurde.

Doch damit nicht genug. In der Freiburger Haftzeit holten Hans Diers seine finanziellen Schwierigkeiten ein. Von der neuen Geschäftsführung der GmbH wurden Unregelmäßigkeiten in der Kassenführung festgestellt und ein Treuhänder beauftragt.15 Hans Diers wurde durch die Staatsanwaltschaft angeklagt und am 22. April 1939 durch die 10. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin wegen Untreue (aufgrund von fortgesetztem Vergehen gegen § 81 a GmbH Gesetz) und Unterschlagung zu acht Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 4500 Reichsmark verurteilt. Diese und die vorherige Strafe des Landgerichts Karlsruhe wurden in eine Gesamtgefängnisstrafe von einem Jahr und vier Monaten Gefängnis zusammengefasst.

Quelle: Landesarchiv Berlin, Hans_Diers_LAB-A-Rep.-358-02-120334-Bl.-230

Diers Entlassungstag wäre im April 1940 gewesen. Im Juli 1939 wurde Dr. Hans Diers aus den Gefängnissen Freiburg i. Br. in das Gefangenenlager Rodgau Dieburg (Hessen/Lager I Dieburg) „überstellt“ und damit in eine Einrichtung des Strafvollzugs verbracht, in der eine rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge betrieben wurde.16

„Im Lager Rollwald verteilte die Lagerleitung die homosexuellen Gefangenen so auf die Baracken, dass sie nicht unmittelbar mit anderen Homosexuellen in Kontakt kamen. Um homosexuelle Handlungen zu unterbinden, wurden die Namensschilder an den Betten homosexueller Gefangener ‚gut sichtbar rot unterstrichen‘. Im Lager Dieburg war an den Betten ein schwarzer Winkel angebracht.“17 Weihnachten 1939 stellte Diers ein Gnadengesuch, worin er seine Situation verdeutlichte. Er schrieb: „Einschließlich der nicht anerkannten Untersuchungshaft sowie der in 45 Tage umgewandelten Geldstrafe von RM 4.500,- aus der zweiterwähnten Strafsache habe ich somit eine ununterbrochene Haft von 22 ½ Monaten zu verbüßen, wovon zur Zeit bereits über 19 Monate verstrichen sind. Von der Reststrafe bitte ich hiermit ergebenst, mir einen Teil auf dem Gnadenwege zu erlassen […].“18 Die Haftstrafen trafen ihn also in ununterbrochener Haft. Hans Diers erhielt keine Chance sich zwischen den Haftstrafen zu bewähren.

Der aus Baden stammende Vorstand des Gefangenenlagers Rodgau Dieburg, Franz Mohr (geb. 1882), nahm zum Gnadengesuch Stellung. Dieser schrieb zunächst, dass Hans Diers „einsichtig“ sei und „Reue“ zeige und sich „ordnungsgemäß“ führe. Allerdings ließen seine Arbeitsleistungen, so der Bericht, „zu wünschen übrig“. Die darauf folgende Beurteilung dürfte das Schicksal von Hans Diers mit besiegelt haben: „Er gilt als besonders gefährlicher Homosexueller und ist schon wiederholt einschlägig vorbestraft, so daß nur restlose Strafverbüßung in Frage kommt.“19 Heidi Fogel, die zum dortigen Lagergeschehen geforscht hat, schreibt: „Gefangene, die bei homosexuellen Aktivitäten entdeckt wurden, oder solche, die vom Lagervorstand als ‚ausgesprochen homosexuell veranlagt‘ und als ‚wohl auch absolut unverbesserlich‘ eingestuft wurden, mussten isoliert in einer Zelle in der Arrestbaracke übernachten.“20 Zudem wurde im Oktober 1940 eine Baracke zur Isolierung homosexueller Häftlinge im Lager Rollwald eingerichtet.21

Dem Bericht aus Rodgau Dieburg folgend, wurde das Gnadengesuch von Dr. Hans Diers am 11. Januar 1940 durch den Oberstaatsanwalt beim Landgericht in Karlsruhe abgelehnt. Auf dem Ablehnungsbescheid ist handschriftlich vermerkt: „Warum unterschreibt Diers seine Eingabe mit »Dr.«?“ 22

Hans Diers wurde offenbar nicht mehr in Freiheit entlassen. Als mehrfach vorbestraft wurde er, jetzt zusätzlich klassifiziert als „Gemeingefährlicher“, in das KZ-Sachenhausen eingeliefert.23

Auf einer Zugangsliste des KZ Sachsenhausen finden wir heute den Namen von Hans Diers.24 Er wurde dort am 11. September 1940 mit der Nummer 32746 registriert, also zu einem Zeitpunkt, an dem homosexuelle Männer in Sachsenhausen bis auf wenige Ausnahmen gezielt ermordet wurden.25 Seine Häftlingskategorisierung weist zwei Merkmale auf: „BV/175“, was „Berufsverbrecher und Homosexueller“ bedeutete. Der Lageralltag im Konzentrationslager Sachsenhausen hatte sich zu diesem Zeitpunkt, auch durch die Kriegssituation, bereits erheblich verschärft. In Sachsenhausen wurde Hans Diers im Block 36 untergebracht, der zum Bereich der sogenannten „Isolierung“ gehörte, einem abgetrennten Lagerbereich, in dem eine generelle Isolierung der homosexuellen Häftlinge vorgenommen wurde.26 Im täglichen Überlebenskampf dürfte er nicht mehr mitbekommen haben, dass die Universität Innsbruck ihm im Oktober 1940 den Doktor der Staatswissenschaften entzog.

Hans Diers verstarb etwa zwei Monate nach seiner Einweisung. Auf der Sterbeurkunde ist als Todesursache „Lobärpneumonie nach Lungeninfarkt“ angegeben und in Klammern „akute Herzschwäche“. Datum: 21. November 1940, Morgens um 10:30 Uhr. Seinen Eltern, die die NS-Zeit und den zweiten Weltkrieg überlebten, musste die Urkunde später wie Hohn vorgekommen sein.

Hans Diers Geschichte zeigt, dass es weiterer historiografischer Forschung bedarf. Sie zeigt, dass wir als Forschende und Geschichtsinteressierte unseren Blick erweitern müssen, über die NS-Kategorien der Verfolgung hinaus. Sie zeigt beispielsweise, dass weitere sogenannte Häftlingskategorien genauer, auch im Hinblick auf die Schicksale homo- und bisexueller Menschen und anderer geschlechtlicher und sexueller Identitäten in den Blick zu nehmen sind, so unter anderem auch die Gruppe der „Berufsverbrecher“ und die der „Asozialen“.

Und nicht zuletzt zeigt sie auch – und dies wird ebenso weiter zu erforschen sein – wie Angehörige und Betroffene nach 1945 um Entschädigung bemüht waren. Wie die NS-Verfolgung und Ermordung, aber auch die Demütigung sich nach 1945 fortsetzten. So hat die Universität Innsbruck ihrem Alumnus Hans Diers den Doktorgrad bis heute nicht zurückerstattet bzw. dessen Entziehung nicht korrigiert. Vielleicht braucht es für einen eigentlich einfachen Schritt keinen Gedenktag wie den 27. Januar oder der 17. Mai. Dort, wo Digitalisierung immer noch eine riesige Hürde ist, reicht vielleicht ein Kugelschreiber und ein Stempel. Und vielleicht braucht es ein klein wenig Grandezza im Umgang mit bürokratischen Hindernissen.

Literatur

Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N. (Hg.) (2015): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 3. überarb. u. erw. Aufl. Bielefeld.

Fogel, Heidi (2004): Das Lager Rollwald. Strafvollzug und Zwangsarbeit 1938 bis 1945. Hrsg v. Förderverein für die historische Aufarbeitung der Geschichte des Lagers Rollwald e.V., Rodgau; Nieder-Roden.

Hoffschildt, Rainer (Hannover): „§ 175-Opfer im Strafgefangenenlager Rodgau zur Zeit des Nationalsozialismus, PDF-Dokument“.

Hormayr, Gisela (2019): „Hans Joachim Diers“. In: Ebd.: Verfolgung, Entrechtung, Tod. Studierende der Universität Innsbruck als Opfer des Nationalsozialismus. Innsbruck; Wien; Bozen: StudienVer.

Müller, Joachim; Sternweiler, Andreas (2000): Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen. Herausgegeben vom Schwulen Museum Berlin. Berlin.

Munier, Julia Noah (2021): Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kohlhammer.

Santer, Katharina (2013): „»An alle deutschen Hochschulen«. Zur Entziehung der Doktorwürde an der »Deutschen Alpen-Universität Innsbruck«, 1938-1945. In: Österreichische HochschülerInnenschaft (Hg.): Österreichische Hochschulen im 20. Jahrhundert. Austrofaschismus, Nationalsozialismus und die Folgen. Wien: Facultas, S. 145-159, hier S. 157-158.

Schäfer, Christian (2006): „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182a. F. StGB) Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (Juristische Zeitgeschichte, 26). Berlin.

Fussnoten

1 Vgl. Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Begrüßung bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus. URL: https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2023/20230127-931310, 16.05.2023.

2 Vgl. Vgl. Fischer; Lorenz 2015, S. 209 ff.

3 Vgl. URL: https://magnus-hirschfeld.de/forschungsstelle/, 26.01.23. Siehe hierzu auch den Vortrag, den der Historiker Jens Dobler anlässlich der Gedenkstunde „90 Jahre Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft“ am 10.05.2023 in Staatsbibliothek zu Berlin hielt. Siehe auch den Blog der Staatsbibliothek zu Berlin: Ausgelöscht – Verloren – Wiederentdeckt. 90 Jahre Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft. Online-Präsentation einer kleinen Kabinettausstellung zur Gedenkveranstaltung am 10.5.2023, URL: https://blog.sbb.berlin/institut-fuer-sexualwissenschaft/, 16.05.2023.

4 Die Opfer des § 175 RStGB wurden in Baden-Württemberg wie im gesamten Bundesgebiet lange Jahre weder als NS-Verfolgte anerkannt noch individuell entschädigt oder rehabilitiert. Sie galten, waren sie im Zuge der NS-Terrorherrschaft nach § 175 RStGB strafrechtlich verurteilt, auch nach 1945 weiter als vorbestraft. Mehr noch: Männer, die in der NS-Zeit aufgrund von § 175 und § 175 a RStGB in Konzentrations- oder Arbeitslagern inhaftiert waren, wurden erneut zu Zuchthaus oder Gefängnisstrafen verurteilt.

5 GLAK Nr. 1924, o. Bl. Gnadengesuch von Hans Diers, Berlin 20.04.1938, S. 2.

6 Vgl. Siehe auch Hormayr 2019, Eintrag zu Hans Diers und Santer 2013, S.157-158.

7 Hierauf deutet ein Erpresserbrief hin, der an Diers adressiert war. Vgl. GLAK 309 Nr. 1923, Bl. 7, Erpresserbrief (Abschrift) vermutlich von September 1937.

8 Vgl. Munier 2021, S. 445, Grafik A. 4 und 5. Siehe auch den Blogbeitrag von Frédéric Stroh: URL: https://www.lsbttiq-bw.de/2019/02/06/strafverfolgung-der-maennlichen-homosexuellen-im-liberalen-musterland-baden/16.05.2023.

9 Vgl. GLAK 309 Nr. 1923, Bl. 7, Erpresserbrief (Abschrift) vermutlich von September 1937.

10 Vgl. Landesarchiv Berlin A Rep. 358-02: 120334, Bl. 96.

11 Landesarchiv Berlin A Rep. 358-02: 120334, Bl. 121. Einschreiben v. 05.08.1938.

12 § 175a RStGB zit. n. Schäfer 2006, S. 318.

13 GLAK 309 Nr. 1923, o. Bl. Anklageschrift des StA beim LG Karlsruhe v. 29.09.1938, S. 5.

14 Der Autoschlosser erhielt vom Amtsgericht Rastatt wegen versuchter Erpressung eine Gefängnisstrafe von 2,5 Monaten.

15 Landesarchiv Berlin A Rep. 358-02: 120334.

16 Vgl. zu Rodgau Dieburg auch Hoffschildt, S. 4 sowie Fogel 2004, hier S. 347-348. Leider ließ sich im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt bei einer Durchsicht der Kartei dt. Häftlinge in G 30 „Gefangenenlager Rodgau“, Nr. 2 kein Eintrag zu Dr. Hans Joachim Otto Diers finden. Email-Auskunft des HStAD v. 09.02.2023 an JNM.

17 Fogel 2004, S. 146-147.

18 GLAK 309 Nr. 1922, Gnadengesuch von Hans Diers v. 24.12.1939.

19 GLAK 309 Nr. 1922, Bl. 1. Der Vorstand Gefangenenlager Rodgau Dieburg an den OStA beim LG Karlsruhe v. 04.01.1940.

20 Fogel 2004, S. 147.

21 Vgl. hierzu Fogel 2004, die darauf hinweist, dass die Nutzung umstritten war.

22 GLAK 309 Nr. 1922, Bl. 7. Ablehnungsbescheid des OStA beim Landgericht Karlsruhe v. 11.01.1940.

23 Vgl. Archiv der Universität Innsbruck, Entziehung des Doktorgrades, Hans Diers. URL: https://www.uibk.ac.at/universitaet/profil/geschichte/aberkennungen/files/diers.pdf, 16.05.2023.

24 Vgl. Liste der Zugänge v. 11.09.1940 (Listenmaterial Sachsenhausen), 1.1.38.1 / 4095241ITS Digital Archive, Arolsen Archives .

25 Vgl. Müller; Sternweiler 2000, S. 45.

26 Vgl. Müller u.a. S. 35-41.

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