„Travestie Erinnerungen“ – Sammlung von Tina Glamor

„Travestie Erinnerungen“ – Sammlung von Tina Glamor

Zum Auftakt des neuen Forschungsmoduls „100 Jahre geschlechterdivers in Baden-Württemberg. Lebenswelten und Verfolgungsschicksale von transgender, trans- und intersexuellen Menschen im deutschen Südwesten (1920-2020)“.

Tina Glamor ist 1991 geboren, arbeitet als Bauzeichner und lebt in einem kleinen Dorf zwischen Stuttgart und Schwäbisch Gmünd. 2007 hat er angefangen sich mit dem Thema Travestie zu befassen und Kontakt zu Travestiekünstler*innen aufzunehmen. Mit seiner Sammlung „Travestie Erinnerungen“ besitzt er mittlerweile eine der wichtigsten Sammlungen zur Geschichte der Travestie und ihrer Akteur*innen in Deutschland.

CDs aus der Sammlung „Travestie Erinnerungen“, Fotografie von Tina Glamor, 2019

Aus einem Zoom-Gespräch mit Tina Glamor am 27. August 2021, aufgezeichnet und wiedergegeben von Karl-Heinz Steinle:

Beginn des Sammelns

Was ich nicht so gern habe ist, wenn mein vollständiger bürgerlicher Name genannt wird. Deswegen nehme ich als Pseudonym meinen Künstlernamen Tina Glamor. Dass ich angefangen habe zu sammeln, hat sehr viel mit meiner eigenen Entwicklung zu tun, denn das Thema Verwandlung und Verkleiden war schon von Kind auf bei mir gegeben. Ein Schlüssel-Erlebnis: Ich war so 15, 16 als meine Tante mir begeistert von einer Show mit Mary & Gordy erzählt hat, die in den 1980er Jahren als bekanntes Travestie-Duo oft im Fernsehen waren. Sie war anfangs überzeugt, Mary sei eine Frau. Aber als Höhepunkt jeder Show sangen die beiden So leb dein Leben, eine Interpretation von Frank Sinatras My Way: Gordy, bereits abgeschminkt und nur mit einer Hose bekleidet, während sich Mary während des Gesangs – als ganz klassisches Element einer Travestie-Show – seiner Schminke, Kleidung und Perücke entledigt und zu Georg Preuße wird. Meine Tante war völlig perplex. Das hat mich so interessiert, dass ich mir gleich die Autobiografie von Georg Preuße Mary – Mein Leben in ihrem Schatten besorgt habe.

 

Werbe-Streichholzbriefchen des Travestie-Lolaks „Chez Nous“ aus der Sammlung „Travestie Erinnerungen“, Fotografie von Tina Glamor, 2019

Dann bin ich im Internet auf Gloria Duval gestoßen – und die kommt hier aus dem Nachbarort und war auch ein großer Travestie-Künstler. Leider lebte Gloria Duval zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, sie ist schon 2006 verstorben. Ich stellte fest, dass es über diesen Travestie-Künstler gar nichts gibt. Ich habe Zeitzeug*innen gesucht, die mir von der Gloria erzählt haben. Und umso mehr ich mich mit der Thematik beschäftigt habe, umso mehr wurde mein Interesse geweckt, nicht nur für Gloria Duval sondern an allen Travestiekünstlern bzw. -künstler*innen. Auch weil ich es so schade fand, dass sie, wenn sie versterben oder von der Bühne gehen, so schnell vergessen werden. Das wollte und will ich einfach verhindern.

Parallel dazu bin ich mit meinem Selberverwandeln schon relativ früh in die Szene gekommen, grade in die Schwulen-Szene. Und irgendwann war in Stuttgart die Türpolitik so streng, dass man unter 16 schon gar nicht mehr feiern gehen konnte. Dann hab ich gesagt: Passt auf, Leute, ich geh heim und zieh mich um. Ich habe die Sachen von meiner Schwester angezogen und bin so in alle Veranstaltungen reingekommen, ich musste auch keinen Ausweis und nichts zeigen. Ich kam außerdem sehr gut an und kam so immer mehr in die ganze Thematik rein und wurde langsam zu Tina Glamor.

Aufbau der Sammlung

Alles begann mit der Recherche über Gloria Duval. Ich wollte unbedingt wissen, wer da im Nachbarort gelebt hat und wie ich Travestie macht. Darüber bin ich auf Manuela Mock gestoßen, die in Frankfurt/Main das „Transnormal“ betreibt, eine Adresse für Crossdresser aus der ganzen Welt, auch für solche die das nur einmal ausprobieren möchten. Sie bezeichnet ihr Geschäft als Erlebnislocation unter dem Motto „Sie haben den Traum – Ich habe den Raum“. Über deren Netzwerk habe ich viele Travestiekünstler*innen kennengelernt, viele davon Stars aus dem legendären Berliner Travestielokal „Chez Nous“, das von 1958 bis 2008 existierte: Patachou, Lady Jane und Madame Kio, die ich in ihrer Wohnung besucht habe. Dann kam auch Renata Ravel dazu und über sie der Kontakt zu Frenchy. Dann lernte ich Manel kennen und über ihn die berühmte, damals schon hochbetagte Ramonita Vargas und so kam eins zum anderen.

 

Werbe-Fächer des Travestie-Lokals „Chez Nous“ aus der Sammlung „Travestie Erinnerungen“, Fotografie von Tina Glamor, 2019

Das Interessante war: wenn ich die Leute getroffen habe und die haben gemerkt, da ist jemand, der hört mir zu, haben sie erzählt und erzählt und haben mir dann auch immer Material gegeben. Befördert wurde das natürlich dadurch, dass die wussten, dass ich auch selber in Drag gehe. Das hat Tore geöffnet und Verbindungen schneller zu Stande kommen lassen. Gerade was das Schminken oder das Fertigen von Kostümen betrifft, weiß ich wie viel Arbeit dahintersteckt. Jemand wie Frenchy, der ab 1968 mit seinen Geschäften „Artistenbazar“ und „Frenchy’s Modebedarf“ in Hamburg fast 30 Jahre lang die Travestie-, Strip-, Kabarett- und Artistenszene prägte, wusste das sehr zu schätzen.

Bandbreite/Vielfalt der Sammlung

Ich versuche, so viel wie möglich von und zu einer Person zu sammeln: alle Fotografien, Alben und Gästebücher, alle Hinweise auf die Kostüme und Accessoires wie Pailletten, Schmuck oder Perücken – am bestem im Original, ansonsten die Skizzen. Dazu auch Programmhefte und Plakate, Werbematerial von den Travestielokalen und Kabaretts, auch die Musiken für die Auftritte, selbst Arrangiertes und Playback-Musik und auch Videos der Auftritte. Ich bekomme viele Tonbänder, Musikkassetten und VHS-Kassetten zugeschickt, die ich digitalisiere und bei mir im Archiv ablege.

Etwas ganz Besonderes sind die Conferencen, von denen ich einige habe. Zum Beispiel die von Rita Jané, die lange im Chez Nous in Berlin die Conferencière und Gastgeberin war und 1995 verstorben ist. Sie hat geschickt gespielt mit dem was zu sagen erlaubt war und was nicht. Ihr Humor war politisch komplett unkorrekt und ging immer ganz gezielt unter die Gürtellinie. Denn um mir alles besser vorstellen zu können, ist für mich auch wichtig: Wie haben sich die Künstler*innen auf der Bühne bewegt, was wurde überhaupt gesagt auf der Bühne und wie war die Stimme?

Fotografien von Show-Kostümen aus der Sammlung „Travestie Erinnerungen“, Seite aus dem Erinnerungsbuch für Frenchy, zusammengestellt von Tina Glamor, 2018

Aber auch Material ganz unabhängig von Travestie ist wichtig – ich möchte den ganzen Menschen beleuchten. Denn viele haben ja auch in anderen Zusammenhängen, in der „normalen Welt“ gewirkt. Madame Kio und Orèl haben in Musicals gespielt, Orèl z.B. zusammen mit Nadja Tiller 1980 in Applaus im Theater des Westens und Ramonita Vargas spielte schon 1964 „einen echten Transvestiten“ im Kinofilm Polizeirevier Davidswache, was damals ein ziemlicher Skandal war. Ich möchte auch immer wissen, wie die Künstler*innen mit Geburtsnamen hießen, wann sind sie geboren, wann gestorben. Womöglich auch, wie lebten sie nach ihrer Bühnenkarriere, was war ihr Umfeld, woran sind sie gestorben?

Bedeutung der Fotografie für Travestie

In den wenigen Interviews, die es gibt, sprechen Travestie-Künstler*innen meistens retrospektiv über ihre Bühnenpräsenz, über ihre erfolgreiche und tolle Zeit, in der sie vielleicht aus ihrer Sicht sehr gut aussahen und jetzt aber nicht mehr so gut aussehen. Wenn man wie ich ein Hintergrundwissen hat zu den Lokalitäten und vielen Künstlerinnen und Künstlern, merkt man schnell, dass da nur die Glanzzeit besprochen wurde und die Schattenzeiten oftmals hinten runtergefallen sind. Dass nicht alles so prunkvoll war, wie das oftmals beschrieben wird. Ja, das ist ein bisschen schwierig im Umgang mit ihnen.

Die Bedeutung von Fotografie für das Thema Travestie, insbesondere noch zu analogen Fotozeiten, ist sehr groß. Die Travestiekünstler*innen mussten sich präsentieren, haben über längere Zeit hinweg ein Image entwickelt und den jeweiligen Entwicklungsstand anhand von Fotografien festgehalten und mit Hilfe der Inszenierungen auf den Fotografien weiterentwickelt. Neben der Selbstverwirklichung die wichtigste Bedeutung ist deren Marketingaspekt, Fotografien waren ja für die Künstler*innen Aushängeschild und Visitenkarte.

Mitsou und Orèl vor dem Travestie-Lokal „Chez André“, 1960er Jahre, Sammlung „Travestie Erinnerungen“

In den nachts beleuchteten Schaukästen der Locations wurden ihre Werbefotografien und Starpostkarten präsentiert, um zu zeigen welche Künstler*innen in den Bars und Cabarets auftreten. Bis in die 1970er Jahre waren das die einzigen Stellen, wo nicht-heteronormative Körperlichkeit in der Öffentlichkeit sichtbar war. Die Fotografien waren Lockmittel und Versprechen zugleich und sie waren ein Tor zum Anrüchigen, vielleicht sogar Verbotenen, jedenfalls ansonsten unter der Hand Gehaltenen.

Ich habe in meinem digitalen Archiv einen Bereich Fotografie und der umfasst fast 12.000 Dateien. Darunter ist natürlich auch viel Bildmaterial aus den Anfangszeiten der Künstler*innen. Da haben oftmals das Make-up oder das Kostüm oder einfach die Selbstdarstellung noch nicht so gestimmt. Aber alle Künstler*innen haben sich ja immer weiterentwickelt. Zum Beispiel Frenchy: Er ist 1938 geboren, machte eine Lehre zum Schaufensterdekorateur und ging dann Ende der 1950er Jahre nach Paris, wo er als „Zarah“ auftrat. Später war er zusammen mit dem Schweizer Everest als „HiFi-Sisters“ auf Tourneen und fand dann erst den Namen Frenchy, der sein eigentlicher Markenname wurde.

Frenchy und Orèl bei Auftritten im Travestie-Lokal „Fifty-Fifty“, Fotografien 1960er Jahre, Sammlung „Travestie Erinnerungen“

 

Fotoalben als eigenes Genre

In den Foto-Alben, die ich habe, ist oft viel Persönliches drin, Fotos mit Freundinnen und Freuden und Familienangehörigen oder Garderobenbilder, auf denen auch mal der ganze Körper drauf zu sehen ist oder Schnappschüsse, bei denen man die Kamera draufgehalten hat und die Personen nicht vorteilhaft getroffen sind. Dabei muss man sehen, ob das Album angelegt wurde parallel zur Travestie-Karriere – so wie gelebt, so sind die Foto entstanden und eingeklebt. Aber viele Künstler*innen hatten zu Showzeiten keine Zeit dafür. Ihre vielen Fotos sammelten sich über die Zeit an und schlummern in Kisten. Im Rentenalter dann beginnen manche die Fotos einzukleben. Und da sieht man oft, dass diese Alben nicht chronologisch aufgebaut sind und dass sie eher künstlerische Fotografien enthalten und keine privaten.

Orèl und Ronny in der Garderobe des Travestie-Lokals „Eldorado“, Fotografie um 1960, Sammlung „Travestie Erinnerungen“

 

Ein gutes Beispiel ist Orèl, der um 1935 in Esslingen am Neckar geboren wurde und in den 1990er Jahren in Berlin an den Folgen von Aids verstarb. Ich habe sein Anfangsalbum hier, beginnend mit ersten Auftritten 1955 in Stuttgart im Lokal „Baßgeige“. Daran ist gut zu sehen, wie Orèl sich selber ein Image sucht. Das ist überhaupt noch nicht festgelegt am Anfang und auf den Fotos kann man nachverfolgen wie sich sein Image entwickelt. Er probiert sich zunächst aus als „Jacqueline“, später auch mit den Zusätzen „La grande vedette“ oder „Vedette Travestie International“. Gleichzeitig dienten solche Alben auch als Selbstdarstellung, als eine Art Präsentier- oder Werbemappe. Die Gestaltung der Albumseiten mit Programmen, Zeichnungen, Fotozuschnitten, usw. hat dann oft eine ganz eigene Qualität. Und das ist ja grade das Spannende, weil das ja das eigentlich Zeittypische zeigt. Und ich finde, das erzählt viel mehr, als wenn man das perfekt Gestylte, zum Hauptimage Erklärte nur hat.

Fotografie aus dem Album von Orèl, Sammlung „Travestie Erinnerungen“

Selbstverständnis als Sammler*in

Sammler bedeutet für mich, dass man etwas in der Hand hält, das ins Regal irgendwo hinstellt und gut ist. Mit dem ist es aus meiner Sicht nicht getan. Ich würde mich deshalb eher als Wahrer oder Hüter im Bereich Travestie bezeichnen. Was ich bislang zusammengetragen habe, ist ja fast so eine Art Gedächtnis.

Ich nenne deshalb meine Sammlung „Travestie Erinnerungen“. Ich möchte nicht, dass meine Sachen in Archiven schlummern, ich möchte sie nach draußen zeigen und neu beleben. Deshalb habe ich die Facebook-Seite eingerichtet, zu der es eine gleichnamige Gruppe gibt. Auch auf Instagram bin ich. Ich finde es wichtig, dass Leute, die zum Beispiel in Paris leben und vielleicht nicht mehr aus der Wohnung können, Zugang zu dieser Plattform haben, und sich informieren und mit mir austauschen können.

Und ich finde es immer sehr schön, dass, wenn ich auf der Seite neue Fotos hochgeladen habe, Leute ihre eigenen Erinnerungen da drunter schreiben. Oft geschieht es, dass Personen Kontakt zu mir aufnehmen und mich auf Material hinweisen, das ich dann unter Umständen sogar bekommen kann. Zurzeit ist es jedoch erschreckend, gerade in den letzten Wochen und Monaten ist ein Künstler nach dem anderen gegangen, die alte Garde der Travestie-Künstler stirbt gerade monateweise weg. Ich mache dann immer eine Art Nachruf auf der Travestie-Erinnerungen-Seite und lege auch ein Foto-Album an von diesen Künstler*innen.

Nutzung der Sammlung

Meine Sammlung möchte ich durchaus auch kommerziell nutzen. Für historische Forschungen und Publikationen habe ich zum Beispiel schon mehrfach Fotografien zur Verfügung gestellt. Ich mache auch viel mit der Polit-Tunte BeV StroganoV, die sich um den Kostüm-Nachlass im Schwulen Museum Berlin kümmert. Ich gebe Infos zu Kostümen und stelle sie oder anderes auch für Ausstellungen zur Verfügung. Eng zusammen gearbeitet habe ich auch Markues Aviv für sein Online-Rechercheprojekt „We’re in this world together“, bei dem es hauptsächlich um Personen aus dem Umfeld des Chez Nous geht.

Eine Zeit lang war ich als Tina Glamor auch showmäßig unterwegs und habe dafür meine Sammlung auch immer als Anregung genutzt. In der Showbranche habe ich aber nicht wirklich Fuß gefasst. Wenn ich heute als Tina Glamor erscheine, dann zu bestimmten Veranstaltungen und Events. Zur großen Aids-Gala in Berlin zum Beispiel oder zu Jubiläumsveranstaltungen in der Community. Aber wirklich abendfüllende Programme mache ich nicht. Meinen Schwerpunkt habe ich verlagert. Ich fertige jetzt selbst Kostüme an und gebe Künstler*innen und Künstlern eine Showberatung: Was könnte man in der Show bringen? Wie könnte man die Show aufbauen? Ich bin jetzt eher der Mann hinter der Bühne und nicht mehr auf der Bühne.

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