„Zwitter, Hermaphrodit“ – Was uns ein Lexikoneintrag eines Freiburger Verlags von 1950 über Intersexualität erzählt

„Individuum mit Geschlechtsorganen beider Geschlechter; bei den meisten Pflanzen […] normal, bei Säugetier und Mensch nur Mißbildung.“ So definiert das Volkslexikon des Freiburger Herder-Verlags 1950 in einem knappen Eintrag den Begriff Zwitter. So kurz dieser nur einen Satz umfassende Lexikoneintrag doch ist, gibt er uns doch viele Hinweise auf darauf, wie in den 1950er Jahren über Intersexualität gesprochen und gedacht wurde.

1) Intersexualität ist ein junger Begriff

Abwertende Definition von "Zwitter"

Herders Volkslexikon. Freiburg i. B. 1950, S. 2062

In den 1950er Jahren sprach man noch nicht von Intersexualität, sondern von Zwittern oder Hermaphroditen, um Menschen zu bezeichnen, deren Körper nicht der medizinischen Norm von männlich oder weiblich entspricht. Hermaphrodit ist ein Wort, das auf den griechischen Mythos von Hermaphroditos zurückgeht. Der Sohn von Hermes und Aphrodite, so der Mythos, sei durch eine Umarmung mit der Nymphe Salmakis verschmolzen und dadurch zweigeschlechtlich geworden. In der Medizin wurde der Begriff Hermaphrodit seit der Antike verwendet. Als medizinische Schriften mehr und mehr auf Deutsch geschrieben wurden (anstatt dem vorher üblichen Latein), wurde der Begriff Zwitter geläufiger, wie Ulrike Klöppel in der Einleitung ihrer Studie „XX0XY ungelöst“ zeigt. Zwitter war also in den 1950er Jahren der übliche Begriff und fand so Einzug in die Nachschlagewerke.

Zu dieser Zeit gab es auch schon den Begriff Intersexualität. Dieser wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Sexualwissenschaft „erfunden“. Intersexualität war aber lange Zeit ein recht uneindeutiger Begriff, der auch zur Beschreibung von Homosexualität oder Transsexualität verwendet wurde. Erst seit den 1960er Jahren ist Intersexualität der übliche Begriff zur Beschreibung von Menschen, deren Körper nicht eindeutig der männlichen oder weiblichen Norm entsprechen.

2) Medizin und Biologie bestimmen, wie über Intersexualität gesprochen wird

Der Lexikoneintrag von 1950 handelt in einem Satz Pflanzen, Wirbellose Tiere, Säugetiere und Menschen ab. Das weist darauf hin, dass hier mit biologischen Definitionen gearbeitet wird. Die medizinische Sichtweise wird darin deutlich, dass Zwittertum bei Säugetieren und Menschen als Missbildung benannt wird. Bestimmte Ausformungen des Körpers werden hier also als krankhaft dargestellt – das hat immer zur Voraussetzung, dass es eine Norm gibt, wie ein gesunder Körper auszusehen hat. In diesem Fall wird eine eindeutige Zuordnung des Körpers als weiblich oder männlich als die Norm, das Gesunde genommen – Uneindeutigkeiten gelten dann als Missbildungen, sie werden pathologisiert. So ist die Vorstellung von Zwittertum, Hermaphroditismus, Intersexualität immer untrennbar verbunden mit genauen Vorstellungen davon, wie „normale“ männliche und weibliche Körper auszusehen haben.

Außerhalb des medizinischen Vokabulars gab es lange Zeit kaum Möglichkeiten, über Intersexualität zu sprechen. Aktivist_innen der jungen Inter*-Bewegung haben darauf hingewiesen, wie problematisch es ist, allein medizinische Begriffe zu benutzen, denn sie sind abwertend und pathologisierend. Stattdessen sollte man darauf schauen, wie sich Menschen selbst bezeichnen – das können dann auch die aus der Medizin stammenden Begriffe sein, oder das in den letzten Jahren oftmals verwendete Inter*.

3) Die medizinischen Vorstellungen von Intersexualität hielten Einzug in die bürgerlichen Wohnzimmer

Lexika waren – bevor es das Internet gab – außerordentlich wichtige Bildungsmedien. Was darin stand, galt gemeinhin als korrekt, und sie standen in beinahe jedem bürgerlichen, und auch vielen kleinbürgerlichen Haushalten. Die Lexika des katholischen Freiburger Traditionsverlags Herder gehörten seit dem 19. Jahrhundert zu den meist gelesenen Nachschlagewerken. So können wir davon ausgehen, dass auch Herders Volkslexikon von 1950 weit verbreitet war. Lexika bilden den vorhandenen Wissensstand ihrer Zeit ab. Gleichzeitig formten sie allerdings auch das Allgemeinwissen ihrer Zeit, indem sie dafür verantwortlich waren, welche Begriffe, welches Wissen sich verbreiteten.

Natürlich schlugen nicht alle Menschen, sofort Seite 2062 auf, um herauszufinden, was denn nun eigentlich ein Zwitter sei. Doch wer in den 1950er Jahren im eigenen oder elterlichen Wohnzimmer das Herdersche Volkslexikon stehen hatte und eines Tages den Begriff Zwitter darin nachschlug, würde lernen, dass es sich hierbei um menschliche Missbildungen handele. Da es so im Lexikon stand, würde diese Definition nicht in Frage gestellt werden. Und so konnte sich die Vorstellung weiter verbreiten, dass Körper, die nicht eindeutig der Norm von männlich oder weiblich entsprachen, missgebildet seien. So konnten Lexikoneinträge großen Einfluss auf das Denken der Menschen ihrer Zeit gewinnen und sind daher für die historische Forschung interessante Quellen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*