Ludwig S.: Über eine Denunziation in Trier zu einem Prozess in Stuttgart

Im Zuge des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Belgien und Frankreich im Jahr 1939 ließ die deutsche Regierung deutsche Gebiete, die direkt an die neue Westfront angrenzten, von Zivilist_innen räumen. Die Bevölkerung der geräumten Gebiete musste ihren Besitz, ihre Häuser und Geschäfte zurücklassen und auf unbestimmte Zeit ins Reichsinnere umsiedeln. Einer von ihnen war der Koch und Hotelier Ludwig S., geboren 1895 in Saarbrücken, katholisch, ledig, homosexuell. Gemeinsam mit seinem alten und gesundheitlich angeschlagenen Vater ließ er das in Familienbesitz befindliche Hotel in Blieskastel zurück, brachte den Vater in Frankfurt am Main unter und zog selbst nach Stuttgart, wo er für einige Zeit Anstellung als Hotelkoch fand. Im Frühling des Jahres 1940 verließ S. Stuttgart und ging nach Trier, wo er bei seiner Schwester unterkam.

Im Sommer desselben Jahres erlaubte die NS-Führung den Bewohner_innen der geräumten Gebiete, in ihre Heimat zurückzukehren, war doch die Besatzung von Belgien und Frankreich weitgehend stabilisiert. Bevor jedoch Ludwig S. die Chance erhielt, in sein Hotel zurückzukehren, wurde er verhaftet.

Denunziert wurde er von Gustav Zinn, einem jungen Soldaten, den S. im Café Petrisberg bei Trier kennenlernte. Nach einer längeren Unterhaltung lud er Zinn zu sich nach Haus ein. Dieser sagte zu, wurde aber noch am selben Tag bei der Kriminalpolizei vorstellig, wo er S. als Homosexuellen denunzierte. In Absprache mit der Polizei traf Zinn sich mit Ludwig S., um ihm eine Falle zu stellen. Über den genauen Ablauf dieses Treffens und die Inhalte der Unterhaltung weichen die Aussagen von Gustav Zinn und Ludwig S. stark voneinander ab. Fakt ist jedoch, dass Ludwig S. bei einem gemeinsamen Spaziergang seinen Arm um Zinn legte, woraufhin dieser ein Zeichen an die beiden Kriminalpolizisten gab, die ihnen auf einigen Abstand gefolgt waren. S. wurde verhaftet.

Fünf Wochen später musste das Verfahren gegen S. eingestellt werden, da ihm im Kontakt mit Gustav Zinn kein Vergehen nachgewiesen werden konnte. Doch hatte die Verhaftung in Trier weitreichende Konsequenzen für den bereits vorbestraften Ludwig S.: Im Zuge ihrer Ermittlungen kontaktierte die Trierer Polizei das Hotel in Stuttgart, für das er gearbeitet hatte, und vernahm die dortigen Lehrlinge. Zwei von ihnen belasteten S. So wurde das Verfahren, nachdem es in Trier eingestellt worden war, in Stuttgart wieder aufgenommen und Ludwig S. gemeinsam mit den beiden Lehrlingen angeklagt.

An dieser Stelle einige Anmerkungen zum Thema sexueller Missbrauch: Oftmals geht aus den Gerichtsakten allein nicht deutlich hervor, inwieweit der Geschlechtsverkehr, wegen dem die Männer angeklagt wurden, einvernehmlich war. Man kann aber davon ausgehen, dass es sich bei sexuellen Handlungen zwischen einem erwachsenen Mann und sechzehnjährigen (oder noch jüngeren) Jugendlichen, die wie in diesem Fall noch dazu in einem hierarchischen Verhältnis am Arbeitsplatz zueinander standen, nicht um einvernehmlichen Sex handelte. Auch viele andere Fälle zeugen zwar nicht unbedingt vom Einsatz von physischer Gewalt, aber doch von der Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen oder prekären Lebensumständen der Jugendlichen. Das übliche Vorgehen der Gerichte, die jugendlichen Opfer von sexuellem Missbrauch ebenfalls anzuzeigen, stützt die Verschleierung von Missbrauch. Im Falle von gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten war es vor Gericht nur sekundär wichtig, ob es sich um einvernehmlichen Sex handelte: Der wichtigste Straftatsbestand war die Homosexualität, nicht der Missbrauch. Das Strafmaß für jugendliche Missbrauchsopfer war allerdings meist mit wenigen Wochen Haft sehr gering, oftmals blieben die Jugendlichen auch straffrei. So wurden in diesem Fall Karl B. freigesprochen, Max F. zwar für schuldig erkannt, aber auf eine Strafe verzichtet. Die Kosten des Verfahrens musste er trotzdem mittragen. Das Gericht begründete diese Entscheidung mit folgenden Worten:

„F. selbst wollte zwar an sich zunächst sich auf ein solches unzüchtiges Treiben nicht einlassen. Aber er hat schliesslich nachgegeben und freiwillig mitgemacht. Dabei wusste er, dass solche Dinge verboten sind und er war auch in seiner ganzen Entwicklung weit genug, um seinen Willen dieser Einsicht gemäss zu bestimmen. […] Da er jedoch erst 16 Jahre als war, zunächst auch die Zudringlichkeiten des erwachsenen Mannes abgewehrt hat, offenbar auch keineswegs gleichgeschlechtlich veranlagt ist, und da es schliesslich nur ein einzigesmal soweit gekommen ist, dass er sich am blossen Geschlechteil hat reiben lassen, so wurde der Fall als ein besonder leichter angesehen und deshalb nach § 175 Abs. 2 StGB. von Strafe abgesehen. Der Junge macht auch einen geordneten, anständigen Eindruck und so erschien es auch nicht erforderlich, anstelle einer Strafe nach § 6 JGG. Erziehungsmassnahmen anzuordnen.“

Bemerkenswert im Fall Ludwig S. sind sein Kampf vor Gericht für seine Rechte und seine Versuche, das Verfahren positiv zu beeinflussen. Aus der Untersuchungshaft heraus schlug S. eigene Zeugen und Zeuginnen vorschlug und verwies immer wieder schriftlich auf sein positives Bekenntnis zum NS-Staat und seine wirtschaftliche Unabhängigkeit, die ihn zu einem nützlichen Bürger dieses Staates machte. Dass mehrere seiner vorgeschlagenen Zeugen vor Gericht gehört wurden und dass seine politischen Bekenntnisse und seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg strafmildernd angerechnet wurden, zeigt auf, dass die Angeklagten innerhalb des rechtlichen Apparats durchaus über Gestaltungsmöglichkeiten verfügten. Die mildernden Umstände ersparten Ludwig S. das Zuchthaus. Das Stuttgarter Gericht verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und 5 Monaten.

Im Gefängnis wurde er als Koch eingesetzt und 1941 wegen guter Führung vorzeitig auf Bewährung entlassen.

Quelle: StA LB E 323 II 150.

Strafakte Ludwig S.