Das verborgene Leben der Eleonore Behar

Ausweis Eleonore Behar

Ausweis von Eleonore Behar

Von Anna Hájková, aus Anlass des Holocaust-Gedenktages

Am 19.4.1945 kam im Ghetto Theresienstadt ein Transport von ungarischen Juden an; sie kamen aus dem Zwangsarbeitslager Immendorf in Niederdonau. Darunter war auch die 23-jährige Budapesterin Anna Lenji mit ihrem Mann Loránd. Die neuen Häftlinge wurden in der Dresdener Kaserne einquartiert. Hier wurde Lenjis Gesundheit von einer Krankenschwester überprüft. Diese Frau, die Stuttgarterin Eleonore Behar, wurde in Theresienstadt Lenjis enge Freundin. Lenji bemerkte, dass Behars Gefühle für sie eine andere Bedeutung hatten, dass Behar lesbisch war. Behar bot den Lenjis an, als Familie mit ihr nach dem Krieg nach Stuttgart zu gehen; Loránd war jedoch Zionist und wollte nach Palästina. Noch heute schwärmt Anna Lenji, die in Haifa lebt, von ihrer Freundschaft: „Lotte war fantastisch. Ich habe mich verliebt — also ich habe sie sehr gerne gehabt.”

Warum ist eine einzelne lesbische Stuttgarterin unter den 140.000 Theresienstädter Häftlingen überhaupt wichtig? Eleonore Behar ist eine von ganz wenigen uns bekannten lesbischen und schwulen Häftlingen aus Theresienstadt, und die einzige Frau, deren Namen wir kennen. Abweichendes sexuelles Verlangen wurde in den Ghettos und KZs stigmatisiert; Menschen, die sich an gleichgeschlechtlichen sexuellen Aktivitäten beteiligten, wurden von den Überlebenden entweder gar nicht erinnert oder als perverse Monster dargestellt.

Die meisten KZs waren monosexuell. Wenn ein Mann oder eine Frau sexuell aktiv sein wollten, hatten sie die Wahl zwischen Masturbation oder gleichgeschlechtlichem Sex. Die Angst vor männlicher Homosexualität war auch ein wichtiger Grund, weswegen Heinrich Himmler ab 1942 KZ-Bordelle mitsamt genötigten Sex-Arbeiterinnen einrichten ließ. Diese durften allerdings nur eine ganz kleine Gruppe der Insassen benutzen. Insgesamt war Sexualität in den KZs zumeist ein Zeichen der Elite, der Kapos und anderer Funktionshäftlinge. Die wenigsten Menschen, die im KZ gleichgeschlechtlichen Sex hatten, begriffen sich vor oder nach ihrer Haft als homosexuell; sie hatten Sex mit dem eigenen Geschlecht, weil es eben das einzig anwesende war. Wir können sie nicht als „homosexuell“ bezeichnen, sie sind aber sehr wohl ein Teil der queeren Geschichte. Theresienstadt unterschied sich insofern von vielen KZs, als dass hier Männer und Frauen zusammen interniert waren. Diejenigen jüdischen Häftlinge aus Theresienstadt, die auch vor und nach dem Krieg das eigene Geschlecht begehrten, Menschen wie der Aachener Zionist Fredy Hirsch, der spätere dänische Journalist Ralph Oppenhejm oder der nach Dänemark emigrierte Berliner Damenimitator Harry “Hambo” Heymann, sind ebenso ein Bestandteil von queerer Geschichte.

Ulrike Janz, Cathy Gelbin und Insa Eschebach wiesen auf die ausgeprägte Homophobie der Häftlings- und Überlebendengemeinschaft hin. Diese Homophobie war keine Fortsetzung der Zwischenkriegshomophobie, es war auch keine Aneignung der Homophobie der Nazis. Sie war ein eigenes Produkt der Welt der Lager, welche vielfach gender-normativer wurden. Dort wurden die Geschlechtsidentitäten genau beobachtet und im Zweifel “bestraft”: So wurden beispielsweise Frauen, die sich in Ghettos oder KZs an sexuellem Tauschhandel beteiligt hatten, als unmoralische, gefallene Wesen abgetan.

Die Wahrnehmung der queeren Holocaustopfer als Monster hatte weitreichende Wirkungen: sie bewirkte, dass sie nie Zeugnis ablegen durften. Denn in unserer Erzähltradition ist der Erzähler immer tugendhaft oder sieht seine Sünden ein und leistet Abbitte. Ein Monster kann aber a priori nicht tugendhaft sein. Die eigene Geschichte nicht erzählen zu können, zudem als Zeuge bzw. Zeugin und Opfer eines Genozids, ist ein ungeheurer Einschnitt: es ist, als hätte es diese Leute nie gegeben, ihr Leben hätte keinen Wert gehabt, als würden wir sie nicht als Menschen erkennen, die an unserer Geschichte teilhatten. Diese Auslassung ist genau das, was Gayatri Spivak als „epistemische Gewalt“ bezeichnete.

In dieser Konstellation verschwanden lesbische Frauen doppelt: als Homosexuelle und als Frauen. Um dem Verschwinden etwas entgegen zu setzen, machte ich es mir zur Aufgabe, alle Spuren von queerem Verhalten zu sammeln und, wenn nur irgend möglich, die Namen und Schicksale der jüdischen Lesben und Schwulen aus Theresienstadt aufzuspüren. Seitdem ich 2008 Anna Lenjis Oral-History-Interview im Archiv von Yad Vashem gelesen hatte, spürte ich Behar nach.

Behar wurde am 9. Mai 1922 in Stuttgart geboren; ihr Vater war der türkisch-stämmige jüdische Teppichhändler Abraham Behar, ihre Mutter Anna geb. Oberthan war Nichtjüdin. Eleonore hatte eine ältere Schwester, Victoria. Die beiden Mädchen waren Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und galten so ab 1935 als “Geltungsjüdinnen”. Abraham wurde 1938 in der Reichskristallnacht verhaftet und nach Dachau deportiert. Er starb im September 1944 in Stuttgart. Victoria emigrierte mit ihrem Mann noch vor dem Krieg nach Chile. Als “Geltungsjüdin” war Eleonore lange vor Deportation geschützt und wurde erst am 18. Februar 1945 mit dem letzten Transport aus Stuttgart nach Theresienstadt deportiert. Diese Deportierten waren jüdische Partner_innen aus „Mischehen“ sowie „Geltungsjuden“.

Theresienstadt war zu diesem Zeitpunkt weniger schrecklich als in den Jahren zuvor. Im Herbst davor hatte die SS zwei Drittel der Häftlinge nach Auschwitz deportiert. Das Ghetto war nun weniger überfüllt, und die Verpflegung und Unterkunftslage waren besser. Bis auf eine Frau haben alle 58 Menschen aus dem Stuttgarter Transport überlebt.

Eleonore arbeitete in den ersten sechs Wochen als Glimmerspalterin, ab 5. April 1945 war sie Ordonnanz und ambulante Krankenschwester im Gesundheitswesen in der Dresdener Kaserne. Untergebracht war sie in der Badhausgasse 2, heute Palackého 22. Als ambulante Krankenschwester in der Dresdener Kaserne lernte sie auch Anna Lenji kennen.

Am 9. Mai 1945, ihrem 23. Geburtstag, wurden Behar und Theresienstadt von der Roten Armee befreit. Es dauerte bis Juni bzw. Juli 1945, bis diejenigen deutschen Juden, die in ihre Heimatstädte zurückkehren wollten, repatriiert wurden. Die meisten von ihnen hatten zu Hause “arische” Verwandte. Den späteren Weg konnte ich nur dank der Stolpersteinforscher_innen aus Stuttgart, vor allem Siegfried Bassler und Irma Glaub, nachzeichnen. 1947 emigrierte Eleonore mit ihrer Mutter nach Santiago de Chile zu ihrer Schwester Victoria Borax. Eine weitere Bekannte, Lore Heppner aus Santiago, konnte feststellen, dass Eleonore am 7. Februar 2011 in Santiago starb. Nur wenige Tage vor ihrem Ableben wurde sie in ein jüdisches Altersheim eingeliefert. Sie erhielt ein Sozialgrab, wie es ganz arme Leute bekommen. Niemand konnte sich an Eleonore erinnern, keine der Organisationen der Holocaustüberlebenden kannte ihren Namen. Mit diesem tristen Ergebnis endete jahrelang meine Spur.

Foto Eleonore Behar aus dem Transitvisum

Aus dem Transitvisum

Durch meine Forschung habe ich die genealogische Plattform geni.com kennengelernt. Zuerst fand ich durch geni Eleonores Foto von 1947 aus ihrem brasilianischen Transitvisum. Darauf ist eine starke, lockige, leicht lächelnde Frau mit großen Augen zu sehen. Im Dezember 2016 fand ich durch Duplikate des Familienstammbaums auch Namen von Victoria Borax‘ Nachfahren. Schließlich gelang es mir, Eleonores Urgroßneffen Tomas zu kontaktieren — er antwortete auf meine Nachricht auf Facebook. Victoria war seine Urgroßmutter, er erinnerte sich gut an “Tante Lore”. Sie hatte nie geheiratet, wohnte mit ihrer dominanten Mutter, bis diese starb, und arbeitete in einem jüdischen Laden. Danach wohnte sie zur Untermiete im Viertel Bellavista. Sie stand ihrer Schwester bei, die von ihrem Mann verlassen worden war, und half ihr, ihre Kinder großzuziehen; Gloria, Tomas’ Großmutter, war ihr besonders nahe. Sie war leidenschaftliche Raucherin und starb zuletzt an Lungenkrebs. Ich erzählte Tomas, weswegen ich mich

Urgroßneffe Tomas

Urgroßneffe Tomas

ausgerechnet für seine Tante interessiere. Tomas, ein 19-jähriger, gutaussehender Ökonomiestudent, war überrascht – aber nicht erstaunt. Es machte Sinn, dass seine Tante lesbisch war. In seiner Familie erzählte man sich, dass sie von den Hafterlebnissen so traumatisiert war, dass sie keine eigene Familie gründen konnte. Tomas erklärte: “I will be your detective!” Bei seinen Verwandten fand er einige von Eleonores Dokumenten, auch noch ein weiteres Foto von Eleonore in Stuttgart, kurz nach ihrer Befreiung. Es gäbe da auch noch Briefe, die er vielleicht finden könne; und für eine Schulaufgabe zum Thema Holocaust interviewte er seine Tante, leider ohne Aufnahmegerät.

Schließlich fand ich auch Anna Lenji durch das Archiv des Internationalen Roten Kreuzes und geni. Lenjis Tochter lebt wie ich in London und vermittelte mir die Telefonnummer ihrer Mutter. Gestern sprach ich mit der alten charmanten Dame, deren offenherziges Interview eines der ganz wenigen ist, in denen die heterosexuelle Erzählerperson positiv und ohne Abscheu über eine queere Begegnung berichtet. Lenji freute sich sehr, dass jemand sie nach ihrer Freundin fragte, die ihr geholfen hatte, sich in Theresienstadt zurechtzufinden. Auch wenn die Frauen nur ungefähr zwei Monate miteinander verbracht hatten, betonte Lenji, wie sehr sie Behar lieb gewonnen habe. Sie habe noch ein Foto von ihr, suche es hin und wieder heraus und schaue es sich an. Im Mai werde ich in Israel sein, Anna Lenji besuchen, das Foto kopieren und mit ihr über Eleonore Behar sprechen.

So spannt sich die Verbindung der Stuttgarterin Eleonore Behar von Stuttgart nach Theresienstadt, von Santiago de Chile nach Haifa und nach London. Es ist kein Zufall, dass Eleonore Behar weder in den chilenischen noch in den internationalen Oral-History-Projekten der Holocaustüberlebenden befragt worden ist, ebenso wenig, dass Behars Familie nicht wusste, dass sie Frauen liebte. Der Erzählrahmen dafür war nicht da, verursacht durch die anhaltenden Homophobiemuster der Überlebenden. Das können wir als Forscher_innen ändern, indem wir die homophoben Mentalitäten hinterfragen und aufzeigen, was diese Stigmatisierung bedeutete.

Ich habe kein Zeugnis von Eleonore, aber ich habe ihre Bilder, ihre Unterschrift, ich weiß, dass sie anpackend, hochintelligent und selbstbestimmt war, dass ihre Familie sie bis zuletzt besuchte. Mehr Happy End kann ich als Holocausthistorikerin, die queere Geschichte betreibt, nicht erwarten.

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